„Wie können die nur so leben?“, ist mein Gedanke, nachdem ich die ersten Eindrücke sammeln durfte. In Indien gelandet, mit hoher Motivation, ein fernes Land mit neuen Kulturen und anderen Lebensgewohnheiten kennenzulernen und tatkräftig mit Unterstützung an sozialen Projekten zu dienen, habe ich die ersten schockierenden Momente erlebt.

Der erste sogenannte Kulturschock begegnet mir schon am Flughafen: Der Religionsunterschied macht sich bemerkbar. Sari als Gewand, der Turban als Kopfbedeckung und Bemalungen im Gesicht symbolisieren die Gläubigkeit der Inder. Es dauert etwas bis ich realisiere, dass ich in einem fernen Land knapp 7300 km weiter süd-östlich Fuß fasse. Viele große, braune Augen, ausschließlich männlich, beobachten meine jungfräuliche Ankunft bis zum Einstieg in ein Taxi, das mich in das langersehnte Hotel verfrachtet.

Das ganz normale Chaos

Laute Motoren, warnende Hupsignale, das Klingeln der Rikschas, quietschende Reifen der Tuk Tuks, Unterhaltungen zwischen Fußgängern, Fahrradfahren und wenn man so will auch zwischen sämtlichen Tieren wie Kühe, Hunde oder Ziegen; dies beschreibt die Geräuschkulisse des indischen Straßenverkehrs. Das Leben spielt sich auf der Straße ab und die täglichen Hupkonzerte halten jedermanns Herz-Kreislauf-System in vollem Gange. Der Lärmpegel ist allerdings nicht das einzig Erwähnenswerte: Der von den Indern geschätzte Tumult herrscht auf den Fahrbahnen. Wozu braucht man auch Regeln, die einen in seiner Freiheit der Lebensgestaltung und Entscheidung einschränken? Keinen Verkehrsschilder, Ampeln oder Straßenmarkierungen wird Beachtung geschenkt;  Autofahrer überqueren oder befahren mit konstantem Tempo die Straßen ohne Bedacht. „Autounfälle sind quasi vorprogrammierte Ereignisse!“, würden wir Europäer wohl denken. Falsch gedacht! Es ist das organisierte Chaos, das nahezu schadenfrei funktioniert.

Wir sind eine Reisegruppe, bestehend aus sechs Europäerinnen, wissbegierig dem noch unergründeten Territorium gegenüber. Neue Speisen, unterschiedliche Religionen, diverse Rituale und Lebensweisen begleiten uns bei der Entdeckungsreise. Schöne, aber auch grausame Erkenntnisse werden gemacht. Wir sprechen hier schließlich von Indien. Indien, dem Land der vielen Farben, der gesunden Ernährungsweise, der prunkhaften Kleidungen und Schmuckstücke, aber auch von Indien, dem Land der Armut, der Frauenverachtung und der schlechten Infrastruktur – Begebenheiten, die jeder kennt und die für den Smalltalk wunderbare Gesprächsgegenstände sind.

Neue Perspektiven

Wir arbeiten an Projekten; die meiste Zeit im direkten Kontakt zu Einheimischen. Integriert in das indische Leben und informiert über intimere Lebensweisen der Menschen erlangen wir die ersten Erkenntnisse.

In einer Frauenklinik erfahre ich von einer Klientin, wie nachteilig die indischen Frauen behandelt werden. Patientinnen dieser Klinik wurden häufig geschlagen, misshandelt oder im schlimmsten Falle sexuell vergewaltigt. Eine Information, von der mir die junge Frau sehr bedrückt erzählt. Über ihre Vergangenheit mochte sie nicht sprechen. Viele dieser Frauen sind sehr sentimental. Sie haben es nicht gern über ihre Probleme zu sprechen, stattdessen versinken sie häufig in eigenen Gedanken. Um ihnen etwas Lebensfreude zu schenken, beschäftigen wir sie mit einer Vielfalt von Unterhaltungsmethoden wie Yoga, Meditation, Tänzen, Spielen und Malereien. Manchmal gelingt es uns dadurch ihr Vertrauen zu gewinnen und durch ihre Mauer der Introversion zu schreiten. Danach sprechen die Frauen offener, allerdings weniger über ihre vergänglichen, grausamen Lebensereignisse, sondern mehr über erfreuliche, aktuelle Fortschritte in ihrem Werdegang. Die Frauenklinik ist das einzige Institut unserer Projektarbeiten, in dem nur Frauen arbeiten dürfen. Selbsterklärend!

Ein weiteres Projekt bringt uns an einen Ort, an dem die Differenzen zum europäischen Lebensstandard besonders beeindruckend dargelegt werden: Der Slum. Die Arbeiten, die wir im Rahmen dieses Projektes verrichten, sind mitunter die bewegendsten, die wir auf der gesamten Reise erleben. Wir lernen das Leben auf minimalstem Raum ohne Luxus, ohne Hygiene und nahezu ohne Bildung kennen. Schaut man sich de Slum von weitem an, würde man denken, es sei eine große Müllhalde. Doch ist es ein Wohngebiet, in dem insbesondere Plastikmüll für Reparaturarbeiten dient und mit Hilfe dessen sich viele Familien das Wohnen ermöglichen.

Es ist ein selbsterbautes Zelt einer Großfamilie, das wir uns näher anschauen dürfen. Vier Schwestern, ein Bruder und deren Eltern teilen sich dieses Zelt, das in vier Bereiche unterteilt ist. Ein Bereich beinhaltet die Küche. Sie ist mit einem großen Stein mit zwei tiefen Mulden versehen. In den Mulden wird Feuer gemacht, um warme Mahlzeiten zu kochen. Töpfe und Teller besitzt die Familie nicht. Auf flachen Gegenständen werden die Mahlzeiten bestmöglich zubereitet. Gegessen wird mit der Hand. Die anderen Bereiche im Zelt dienen als Schlafzimmer und als Verstau-Möglichkeit.

Die Kinder nehmen uns an die Hand und präsentieren stolz ihre Habseligkeiten. Textilien, teilweise Müll, aber auch gefundene Ersatzteile von sämtlichen Gerätschaften sind umfunktioniert zu Spielzeugen. Sie laden uns ein, mit ihnen zu spielen. Mit viel Fantasie treten wir ein in ihre bunte, verspielte Welt. Währenddessen überkommt mich ein Gefühl von Neid über ihr Vermögen, Dinge wertzuschätzen. Die Kinder erfreuen sich an dem, was sie haben und dies ist in unseren Augen nicht viel. Wir Europäer hingegen können nicht genug bekommen von den neusten technischen Erscheinungen und Luxusgütern, denn nur diese machen uns für den Moment hinreichend „glücklich“.

Der Natur zuliebe

Vielerlei sehenswürdiger Orte und Landschaften werden uns gezeigt. Die Tiere leben auf freiem Fuße, sie werden nicht gehalten oder für unangemessene Zwecke ausgenutzt. Im Kontrast zu all den durch Müll verschmutzten Orten gibt es auch Ausnahmezustände, wie man im Süden Indiens und auch im Bundesstaat Goa, wo wir uns die meiste Zeit befinden, sehr deutlich erkennen kann. Paradiesische Gefühle kommen auf in der wundervollen Natur Indiens. Es ist auffällig, dass sich die Mentalität der Inder von Ort zu Ort verändert. Je tiefer wir in die dörflichen Landschaften gelangen, desto mehr glücklichen und zufriedenen Menschen begegnen wir. Es ist das einfache und zwanglose Leben im Grünen, das die Inder offensichtlich zufrieden stellt.

Die Natur wird dort durchaus respektvoll behandelt, da die Inder viel Wert auf regionale Kost legen und häufig darauf warten, dass das Obst und Gemüse zu Boden fällt, bevor es geerntet wird. Trotz des ganzen Mülls in vielerlei Gebieten Indiens sind dort erstaunlich schöne Gegenden zu finden.

Verstanden?!

Die Kommunikation mit den Indern läuft nicht immer einwandfrei. Oftmals wissen sie nicht, wie sie sich mit uns verständigen sollen, außer in ihrer eigenen Sprache: Hindi. Es kommt daher häufig dazu, dass die Gesprächsthematik offen bleibt und ein unangenehmes Gefühl entsteht. Doch die Projektkoordinatoren sind bestens ausgebildet und wissen uns bei Fragen und Schwierigkeiten zu helfen. Häufig sind wir froh einen bilingualen Guide an unserer Seite zu haben, da man gewisse Situationen mit fremden Menschen nicht genau einzuschätzen vermag.

In einem Gespräch erzählt uns einer unserer Koordinatoren, dass weibliche Babys häufig direkt nach der Geburt getötet werden. Der Hintergrund dieses grausamen Aktes ist einzig und allein Armut. Frauen in Indien arbeiten für gewöhnlich nicht, was für die Eltern bedeutet, dass das Mädchen sie im hohen Alter nicht versorgen kann. Ein weiterer Aspekt ist die Mitgift: Sobald das Mädchen heiratet, müssen die Eltern eine Mitgift zahlen, die bei einem Buben nicht anfällt.

Aktive Freizeit

Wir sind in einem Kino im Himalaja. Wie im südlichsten Teil Indiens gibt es auch hier keine Heizungen. Das bedeutet: Warm anziehen! Mit Handschuhen, Mütze und Schal versehen schauen wir uns im Kino einen aktuellen Bollywood-Film an. Zu Beginn wird sich erhoben, um die indische Hymne zu singen. Der Film, wie erwartet kitschig und farbenfroh, soll über das Kinder-Kriegen und über Verhalten in einer Beziehung aufklären. Viele aktuelle Bollywood-Filme sind aus Aufklärungsgründen sehr übertrieben dargestellt. Man hat keine Schwierigkeiten die Handlungen in dem Film zu deuten. Jede Tat und Konversation wird sehr offensichtlich präsentiert, sodass kein Irrtum entstehen kann. Beispielsweise würde die Sünde „Lügen“ veranschaulicht werden, indem klar und direkt in mehreren Szenen gezeigt wird, wie wertlos es ist, seinen Mitmenschen etwas vorzumachen. Es soll ja schließlich JEDER verstehen, wie man sich moralisch korrekt verhält und wie man entsprechenden Situationen bewältigt.

Eine äußerst interessante, aufschlussreiche Zeit erleben wir in Indien. 28 Tage unter Mädchen mit kräftezehrenden Anforderungen schweißen nicht nur zusammen, sie bewegen uns auch dazu, wie ein Team zu funktionieren. In guten, aber auch schlechten Zeiten durchleben wir ein spannendes Abenteuer in einem fremden Land mit vielen Facetten und Bedingungen. Zwischen Himmel und Hölle!

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