Sie ist zu dünn, er zu dick, sie zu stark geschminkt, er nicht männlich genug. In der heutigen Zeit wird viel ge- und verurteilt. Schafft man es in einer Zeit gesellschaftlichen Drucks und mit auf Konventionen basierenden Schranken sich selbst zu entfalten und die eigene Identität zu bilden?

„Ach, das ganze Thema Anfeindung ist doch heutzutage gar nicht mehr so schlimm. Wir leben im 21. Jahrhundert – heute kann jeder so sein, wie er will.“ Ein Satz, der so viel Unwissenheit beinhaltet, dass man vermuten könnte, er stamme aus dem Mund einer Person, die in Watte behütet und mit einer rosaroten Brille aufgewachsen ist. Einzig richtig an der Aussage ist, dass wir im 21. Jahrhundert angekommen sind und Epochen hinter uns gebracht haben, die zum Beispiel von Hexenverfolgungen und Fremdenhass geprägt waren. Man sollte daher meinen, dass wir daraus gelernt haben.

Natürlich kann man nun sagen, dass solche Zeiten längst vorbei sind. Heute gibt es angeblich kaum noch handfeste Übergriffe, denen eine Abneigung gegen sexuelle, religiöse oder politische Eigenschaften zugrunde liegt. Auf der Straße werden Menschen, die anders sind, höchstens noch verbal beleidigt und eingeschüchtert. Aber solche Leute können heute ja normal leben. Was ist das denn für ein paradise?

Paradiesisch ist daran rein gar nichts. Es ist eher absurd und paradox. Eine Gesellschaft, die sich selbst für emanzipiert, aufgeklärt und entwickelt hält, hält zeitgleich an veralteten Denkweisen und Einstellungen fest. Wir leben in einer Welt, in der wir auf Wandpostern oder in der neuesten Teenie-Zeitschrift nicht mehr länger flache und stumpfe Lyrik von Goethe, sondern vermehrt anspruchsvolle und tiefsinnige Textpassagen wie „be yourself“ lesen. Aber wie soll ich ich selbst sein, wenn mir meine Außenwelt und Mitmenschen vorgeben, wie ich zu sein habe?!
Was ist, wenn ich eben nicht der allgemeinen Norm entspreche. Meine Zukunft keine „happy family“ mit Mutter und Vater, zwei Kindern, einem Haus in einer ruhig gelegenen Ecke einer Vorstadt samt Golden Retriever für mich vorsieht? Bin ich dann anders? Mit Sicherheit. Mindert sich der Wert meines Daseins als Mensch? Mit Sicherheit nicht! Doch leider findet letztere Schlussfolgerung zwar in meinem eigenen Kopf statt, jedoch lange nicht bei jedem. Bei einigen Leuten scheint eine solche Denkweise zu viel verlangt zu sein. Passt du nicht in das Schema, bist du anders und anders ist schlecht. Schlecht ist nicht gut und deswegen respektieren wir dich nicht.

Auch nur ein Kaffee-Trinker

Einige Leben sehen eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft vor. Aber nicht mit rosa Tüllvorhängen und kleinen Hunden, die aus teuren Designer-Handtaschen hervorschauen, während man auf der Champs Elysee nach einem Java Chip Chocolate Cream Frappuccino blended beverage bei Starbucks Ausschau hält. Es gibt Männer, die einen Mann lieben. Aber keinen Mann, der eine Frau imitiert.„Schwuchtel“ ist jedoch das wohl häufigste Wort, das einem in diesem Zusammenhang auf offener Straße hinterher gerufen wird und sich wahrscheinlich an eine wie soeben beschriebene Vorstellung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften kettet.

Der Weg zu sich selbst ist nicht immer der einfachste, aber der richtige.

Bist du stolz auf dein Spiegelbild?

 

Als ich noch jünger und mit mir selbst am Kämpfen war, Angst davor hatte, zu sein, was ich bin und manchmal ohne jeglichen Halt durchs Leben taumelte, trafen mich solche Worte wie ein Schlag in die Magengrube. Ich zweifelte an mir und begann mich selbst als ‚falsch‘ wahrzunehmen. Es ist Kritik und Hohn an dem, was ich bin und an einer Sache, die ich niemals ändern kann und will! Doch mit der Zeit wird man reifer und stärker. Man lernt zwischen konstruktiver Kritik und heißer Luft zu unterscheiden. Mittlerweile bin ich stolz darauf, abends in den Spiegel schauen zu können und zu sagen, dass ich ich selbst bin. Und da wären wir wieder bei dem Punkt „be yourself“. Ich bin ich. Ich war es sicherlich aber nicht immer. Wie auch, wenn das Motto der heutigen Generation lautet „Entfalte dich. Aber bitte im Rahmen der gesellschaftlichen Konventionen.“

Diese gesellschaftlichen Konventionen sind es, die eine Art Schublade bilden. Denn alles, was hier in Fällen von Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit stattfindet, ist stupides Schubladendenken. Die Schublade mit den Konventionen ist dabei die größte und scheinbar erstrebenswerteste. Hier gehört man dazu. Hier ist man wie die anderen. Hier entspricht man der Norm. Was jedoch, wenn du dort nicht hineinpasst, weil du eben nicht makellos bist, sondern Ecken und Kanten hast, du dich nicht in das auf überholten Fundamenten basierende Puzzle fügst? Dann muss eine andere Schublade her. Die „Schwuchtel“-Schublade. Die Schublade der Kanaken. Die Schublade der dummen Blondine. Die Schublade der Asis. Die Schubl… ok, ich glaube, es ist klar geworden, worum es geht. Wir alle, und davon mache ich mich selbst nicht frei, urteilen zu schnell und in den häufigsten Fällen auch zu Unrecht über andere Menschen. Wir stecken sie in Schubladen, ohne deren wahre Identität zu kennen, nur weil wir glauben, zu wissen, wer dieser Mensch ist.

Für Menschen, die aus dem Raster fallen und „anders“ sind, ist der Weg zur Selbstfindung allerdings nicht einfach. Wenn einem die Außenwelt unmissverständlich und natürlich stets aufs Neue deutlich macht, dass man anders ist und das nicht gut, sondern schlecht ist, glaubt man das irgendwann. Wie soll man sich auch selbst gut finden, wenn einem eingetrichtert wird, man sei es nicht? Um solche Äußerungen nicht an sich heranzulassen, bedarf es eines dicken Fells.

Mittlerweile besitze ich ein solches Fell – eines im Anfangsstadium, das wächst und gedeiht, aber noch Lücken hat. Mich trifft und verletzt es nach wie vor, wenn mich jemand in der Fußgängerzone lauthals beleidigt und mir „Homo“ oder „Schwuchtel“ entgegenruft. Aber ich stehe darüber.

Was ich mir klar machen musste, ist, dass mir nur ein Synonym von dem an den Kopf geworfen wird, was ich bin. Und was ich bin, ist gut und richtig. Daher empfinde ich es nicht mehr als Beleidigung. Wenn ich jemanden „Ey, du Hetero“ entgegenschreie, wird sich derjenige sicherlich auch nicht beleidigt fühlen. In seiner Welt ist das Hetero-Sein ja auch richtig. In meiner ist das Homosexuell-Sein richtig. Es ist somit alles eine Sache der Perspektive auf die Dinge.

Nichtsdestotrotz fällt es Personen, die von der Gesellschaft als „anders“ abgestempelt werden, schwieriger, sich mit sich selbst zu identifizieren und die eigene Identität unbeeinflusst und ungeachtet von Konventionen zu bilden. Doch dieser Weg lohnt sich. Denn was ist bitte so toll daran, in die Schublade zu passen, wo jeder hineingehört, der glatt und nichts Besonderes ist? Nicht viel. Man ist nur noch einer von vielen, geht in der Masse unter. Warum fangen wir nicht an, unsere Makel und Eigenarten, unsere Ausprägungen und Besonderheiten zu feiern und hervorzuheben? Sie sind das, was uns einzigartig und besonders machen. Nicht anders, sondern besonders.

Viel zu sehr versuchen wir, diesen Glanz und dieses gewisse Etwas unter einer Fassade zu verstecken, die anderen vorgaukeln soll, dass wir in das Schema passen. Wir ziehen einen Weichzeichner über unsere Makel und Kanten, damit wir nicht auffallen und nicht anders sind; damit wir in die Schublade passen und dazugehören. Ich möchte aber gar nicht in diese Schublade hineinpassen. Ich möchte lieber ich sein, mit all dem, was mich ausmacht. Ich möchte meine ganz eigene Schublade, weil ich nicht wie die anderen bin. Ich bin ich.

Anzeige
Autor

Kommentar abgeben