Seit August 2016 lebt Lennard Klümper in Esteli, Nicaragua. Der EUM-Student arbeitet ein Jahr lang mit Unterstützung des „Welthaus Bielefeld“ und des Programms „weltwärts“ als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität im Bereich Erneuerbare Energien. Für 54° nord berichtet er von den ersten Stunden und Monaten im fremden Land, großer Herzlichkeit, abschätzigen Frauenbildern und fragwürdigen Wahlbedingungen.

Foto: privat

Die ersten Tage

Ich liege halbwegs entspannt in der Hängematte im Garten meiner Gastfamilie und versuche, meine Eindrücke nach 72 Stunden Nicaragua auf Papier zu bringen. Mir kommen Szenen nach der Ankunft am Flughafen in den Kopf. Von Familien, die zu viert auf einem Motorrad fahren, von greller Sonne und ersten Versuchen, mich zu orientieren, von der Hauptstadt Managua, deren Straßen gefüllt sind mit selbstgebauten Karren, die von Pferden gezogen werden, bis hin zu den teuersten Luxuskarren.

Die Geräuschkulisse ist krass. Gerade jetzt fährt wieder ein Auto mit Lautsprechern und irgendeiner traditionellen Musik durch die Straßen. Gestern Nacht um 5 Uhr wurden Böller gezündet um zu feiern, dass die Wahlkampagne anfängt. Von uns Deutschen dachte fast jeder, es gäbe eine Schießerei – im Nachhinein ganz lustig. In Vorbereitungsseminaren vor einigen Wochen haben wir nämlich so viel über Sicherheit gesprochen, dass man nun ständig mit dem Schlimmsten rechnet: zwielichtige Taxifahrer, die dich in die Pampa bringen und ausrauben, mörderische Insektenstiche, Überfälle, usw. Diese Gedanken zuzugeben, ist fast peinlich. Ich verbuche das unter einem ersten kleinen Kulturschock, den man schon mal haben kann.

Foto: Lennard Klümper

Ich lebe bei meiner Gastmutter Celia in Estelí, einer Stadt, die ungefähr so groß ist wie Flensburg. Celia macht hauptsächlich den Haushalt. Unser Verhältnis haben wir einfach geklärt: Sie kümmert sich um das Essen und um meine Bettwäsche, ich spüle mein Geschirr, wasche meine Wäsche und pflege mein Zimmer. Trotz meiner Beteiligung fällt es mir schwer, mich an eine derartige Rundumversorgung zu gewöhnen. Celia ließ mir die Wahl, ob ich meine schmutzige Kleidung von einer Nachbarin gegen ein Entgelt waschen lasse, oder ob ich mich selbst per Hand daran wagen möchte. Nun genieße ich das Wäschewaschen als eine Art meditative Auszeit.

Nach neun Monaten in Nicaragua

Inzwischen sind neun Monate vergangen. Mittlerweile habe ich mich auf Nicaragua eingestimmt und fühle mich nicht mehr als Fremder, sondern als jemand, der vielleicht nicht aus Nicaragua stammt, dessen Alltag jedoch hier stattfindet. Die letzte Zeit vollständig zusammenzufassen ist unmöglich, darum beschränke ich mich auf das, was mich hier in meiner Zeit am meisten bewegt.

Der heutige „Machismo“ in Nicaragua fällt mir vor allem auf der Straße auf: Für viele Nicaraguaner, auch für einige Freunde von mir, ist es kein Machismo, sondern ein Teil der nicaraguanischen Kultur, Frauen auf der Straße hinterherzupfeifen und sie zweideutig anzusprechen. Gerade für Deutsche ist das sehr verstörend, allerdings muss ich hierbei anmerken, dass es generell nicht unüblich ist, dass sich auf der Straße mit Pfiffen zu grüßen und seinem Bekannten quer durch den Park irgendetwas zuzurufen. Einen großen Unterschied sollte es jedoch machen, wenn man Frauen Sachen wie „Mach‘s gut, Süße, was für ein geiler Arsch“ hinterherruft. Auch die generelle Sicht auf Frauen ist oft sehr diskriminierend. An einem Tag forderte mich zum Beispiel ein junger Mann auf, während meine Freundin vor mir saß,  ich solle ihn anrufen und dann könnten wir zusammen im Stripclub nackte Frauen angucken.

Es gibt kaum gesellschaftlichen Druck, wenn ein Mann seine Frau verlässt, und auch seinen Kindern den Rücken zudreht. Dafür ist es einfach zu „normal“. Gottseidank gibt es immer Gegenbeispiele und ich möchte die Situation nicht pauschal verurteilen, vor allem muss man anerkennen, wie schnell sich die Gesellschaft in den letzten Jahren entwickelt hat – insbesondere durch neue Gesetze, die die Rechte der Frauen schützen sollen. Außerdem fand in den 1980er Jahren eine große Alphabetisierung statt, bei der junge Menschen auf‘s Land zogen, um den Menschen Lesen und Schreiben beizubringen. Auch wenn die von den USA unterstützten Contras versuchten, diese Bewegungen zu stoppen, wurde die Analphabetenrate in kurzer Zeit von 90% auf ca. 10% gesenkt.

Wie ein Stempel auf der Stirn

In den Zeitraum meines Freiwilligendienstes fielen auch die Präsidentschaftswahlen in Nicaragua. Sie standen schon im Vorfeld international in der Kritik, weil keine Wahlbeobachter zugelassen waren und allein der Wiederantritt Daniel Ortegas gegen die Verfassung verstieß, da er bereits seit zehn Jahren an der Macht ist. Wie es zu erwarten war, wurde der Präsident allerdings wiedergewählt, seine Frau noch dazu zur Vizepräsidentin ernannt.

Um zu erkennen, ob jemand bereits gewählt hat, wird den Menschen hier ein Finger in ein Stempelkissen gedrückt. Das bedeutet, dass auch drei Tage später noch jeder erkennen kann, wer gewählt hat und wer nicht. Die Stimmenauszählung erledigen regierungsnahe Helfer. Ich möchte nicht alle haarsträubenden Ereignisse aufzählen, von denen ich gehört habe, allerdings war mir spätestens nachdem bei meiner Gastmutter geklopft wurde, um sie daran zu erinnern, dass sie doch wählen sollte und auch wisse, wo sie das Kreuz machen soll, definitiv bewusst, dass die Wahlen keineswegs so frei und geheim sind, wie sie sein sollten.

Die politische Situation ist ohne Frage kritisch. Allerdings muss man auch zugestehen, dass die Politik, die zurzeit gemacht wird, die beste ist, die Nicaragua je hatte. Die Situation ist deutlich besser zu verstehen, wenn man sie nicht aus seiner deutschen Perspektive, sondern aus der Geschichte Nicaraguas heraus betrachtet. Aussagen wie „immerhin haben wir keinen Krieg“ klingen dann deutlich nachvollziehbarer. Außerdem wird die kostenlose Bildung und das kostenlose Gesundheitssystem, auch wenn die Krankenhäuser total überlastet sind, in Endlosschleife als Beweis für die gute Regierung genannt.

Der Versuch, ein Fazit zu ziehen

Ein Jahr lang in einer anderen, nicht westlichen Kultur zu arbeiten und zu leben, ist unglaublich interessant und bereichernd. Eine fremde Kultur, wie man sie als Deutscher in Nicaragua erlebt, bedeutet aber auch, dass man sich nicht ohne Weiteres mit allen Menschen gut versteht, weil es viele Dinge gibt, in denen man nicht übereinstimmt. Dennoch ist es eine große Chance, sich immer wieder mit zunächst Fremdem auseinanderzusetzen, selbst wenn es Kraft kostet. Mein Jahr in Nicaragua wird definitiv zu den spannendsten in meinem Leben gehören.

Foto: Lennard Klümper

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mm
Autor

sortiert ihren Kleiderschrank nach Farben, ekelt sich vor Federn, hat eine „Emu-Gnu-Schwäche" und immer ein Paar Gummistiefel im Kofferraum.

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