Der 24-jährige Student David stimmte beim Brexit-Referendum für „Leave“ und vertritt damit eine unpopuläre Meinung. Ist er deswegen ein Freak? Im Gespräch erklärt er sich.

Als Großbritannien mit über 51 Prozent für den EU-Austritt stimmte, war ich schockiert. Den Schock teilte ich nicht nur mit meinen Kommilitonen, Freunden und Kollegen, sondern auch mit dem größten Teil der deutschen Politik und Presse. Es hieß die Alten, die Landbevölkerung, die Unzufriedenen, die Abgehängten und die Konservativen seien schuld gewesen – all jene stünden der weltoffenen Jugend gegenüber und der Zukunft einer ganzen Generation im Wege. Während nur zwei von drei Wahlberechtigten unter 24 Jahren abstimmten, waren es bei den über 65-Jährigen 90 Prozent. Hatte sich die „unpolitische“ Jugend letztendlich selbst die Zukunft verbaut? Schließlich sind sie es, die von der Freiheit, überall in Europa studieren und arbeiten zu können, am meisten profitieren. Unzählige Berichte und Interviews zeigten junge Menschen, die es bedauerten nicht zur Wahl gegangen zu sein, sich nun politisch engagierten und erzählten, wie es sich anfühlt zu den Verlierern zu gehören. Für mich war und ist es schwer nachzuvollziehen, aus welchen Gründen immerhin noch 25 Prozent der Jungen, die zur Wahl gingen, gegen den Verbleib in der EU gestimmt haben.

Sind das etwa alles Freaks und Unwissende?

David passt nicht in dieses Bild. Wir studieren zusammen in Flensburg, aufgewachsen ist er in London. Für sein Germanistikstudium zog es ihn erst nach Bristol, dann verbrachte er ein Semester in Augsburg und zog zuletzt vor eineinhalb Jahren für sein Masterstudium nach Flensburg. Jetzt ist er 24 Jahre alt, hat Freunde auf der ganzen Welt und hatte als Brite die Möglichkeit darüber abzustimmen, ob das Land, dessen Pass er trägt, zukünftig noch ein Teil der EU sein sollte oder nicht – David stimmte für „Leave“. Warum?

„Die EU ist ungeheuerlich undemokratisch“

Während ich uns bei unserem Treffen zu diesem Text einen Kaffee einschenke, wühlt David in seiner Tasche und legt zwei Bücher auf den Tisch. „Why Vote Leave“ von Daniel Hannan. Es ist signiert und mit HVV-Tickets gespickt, die die wichtigsten Stellen markieren. Das Buch des britischen Journalisten und konservativen Politikers sei ein „easy read“ und sehr überzeugend, erzählt er. „The Trouble with €urope“ vom Ökonomen Roger Bootle hingegen, solle ich eher lesen, wenn ich einschlafen will. Ich stecke mir den „Hannan“ mal ein. Nun interessiert mich aber zuerst die Meinung meines Kommilitonen, mit dem ich schon so oft bei einem Bier zusammensaß und über diese und andere Themen diskutierte. Heute bleibe ich still und lasse ihn reden.

„Die EU ist ungeheuerlich undemokratisch“, empört sich David. Das übergeordnete Ziel der Europäischen Union sei, ein Land zu formen, das Europa heißt und eine eigene Flagge, Nationalhymne, Sozialpolitik, Außenpolitik und Armee hat. Dieses Ziel sei wichtiger als demokratische Strukturen und Volksnähe zu wahren. Das Demokratiedefizit äußere sich zum Beispiel in der Legitimierung der Kommissare der EU-Kommission, es gäbe keine Zeit für Debatten und der Lobbyismus innerhalb der EU sei unfassbar, sagt David und zeigt mir eine Tabelle, in der die größten Spenderfirmen (unter anderem Microsoft, Shell und die Deutsche Bank) mit Geldsummen aufgelistet sind. „Wenn die Macht so weit weg vom Volk ist, wie kann man die Diskussionen weiterhin hinter verschlossenen Türen halten?“, fragt er mich. Die Menschen, die zum Beispiel gegen TTIP in den großen europäischen Städten auf die Straße gingen, seien am falschen Ort gewesen. Keiner hätte sie gesehen oder sich für sie interessiert, denn die Macht sitze in Brüssel und damit viel zu weit weg vom Volk. „Das macht mir ein bisschen Angst“, gibt er vorsichtig zu. Denn wenn sich das Volk durch Volksabstimmungen äußern konnte, hätte es immer Widerstand gegeben. So wie in Frankreich, Dänemark, Irland oder den Niederlanden. Und trotzdem hätte die EU einfach weitergemacht.

Das einseitige Bild der deutschen Presselandschaft

Ich kann dieses Argument gut nachvollziehen und mir fällt auf, dass diese kritische Sichtweise auf die Strukturen der EU in der deutschen Berichterstattung oft fehlen. Unabhängig davon, was man vom Brexit halten mag, sollte dieses Argument der Brexit-Befürworter offener diskutiert werden.

David betont immer wieder, wie sehr er vor und nach dem Votum von der deutschen Presse enttäuscht war. Er erzählt von einseitigen und falschen Informationen und dass niemals eine positive Vision für den Brexit beschrieben wurde. „In Deutschland wurde der Brexit immer als rechts dargestellt und beispielsweise mit Donald Trump oder Geert Wilders verbunden“, sagt er, „dabei stimmten viele Sozialisten und Labour-Wähler für den Austritt. Für die ist die EU ein Paradies für Kapitalismus und die Großindustrie.“

Dass trotzdem viele junge Leute und Menschen aus dem linken Spektrum gegen den Brexit gestimmt haben, hängt seiner Meinung nach vermutlich mit der Angst zusammen, mit der Stimme nationalistischen und ausländerfeindlichen Strömungen Aufwind zu verschaffen. Stattdessen müsse man aber an den Stellen kämpfen, an denen Fremdenhass entsteht, darüber sprechen und aufstehen, wenn sich die Politik in die falsche Richtung wendet.

Es geht nicht um „Britain First“

David erzählt, dass die Meinungen in seinem Londoner Freundeskreis sehr ausgeglichen waren. Statt Streit gab es hier gute Diskussionen. An der Universität in Bristol war das allerdings anders: „Wenn man nicht gegen den Brexit war, galt man schnell als verschlossen und negativ“. Das sei für viele Menschen auch nicht das Hauptthema gewesen. „Es ist einfach idiotisch zu sagen, dass man für den Brexit gestimmt hat, weil man gegen Migration ist. Wir wollen Kontrolle über Migration und sind nicht dagegen. Ich möchte, dass das Volk in Großbritannien bestimmen kann, was in Großbritannien passieren soll.“ Damit meint er beispielsweise, dass EU-Ausländer momentan durch EU-Regelungen bei der Jobvergabe bevorzugt werden. Andere große Migrantengruppen aus Indien oder Pakistan hätten durch einen EU-Austritt wieder höhere Chancen auf dem britischen Arbeitsmarkt.

Der europäische Gedanke und immer wieder die Briten mit ihrer Extrawurst?

Ich taste mich vor und möchte herausfinden, wie David die positiven Seiten der europäischen Idee sieht. Er unterbricht mich: „Natürlich gibt es diese positiven Dinge. Erasmus ist eine unglaubliche Erfahrung und gut für Europa. Freier Handel ist natürlich gut. Aber brauchen wir dafür eine politische Union? Müssen wir eine gemeinsame Regierung haben, um in anderen Ländern zu studieren oder zu arbeiten? Ich denke nicht“. David ist sehr zuversichtlich, dass diese positiven Aspekte auch nach dem Brexit erhalten bleiben. Ich bin mir da nicht ganz so sicher und mir kommt Angela Merkels Metapher der „Rosinenpickerei“ in den Sinn. Wie soll es in einem zusammengewachsenen und solidarischen Europa funktionieren, dass sich ein Land eine Sonderstellung herausnimmt, frage ich mich und konfrontiere David mit diesem Argument. „Ja, ja … die Briten und ihre Extrawurst“, winkt er nur ab.

Blind vor Ideologie

Plötzlich mischt sich der Kellner, der selbst längere Zeit in England gelebt hat, in unser Gespräch ein und eine hitzige Diskussion entsteht. Ich weiß, dass David sich in Deutschland oft für seine Meinung rechtfertigen muss. Später sagt er zu mir: „Das Verhalten in Deutschland ist oft emotional und nicht rational. Deutsche betonen den Solidaritäts- und Friedensgedanken. In Großbritannien sprechen sie dagegen über die Wirtschaft und die Folgen für die Souveränität. Man wird in Deutschland blind vor Ideologie.“ Wenn ich an das Brexit-Votum zurückdenke, habe ich allerdings auch auf britischer Seite eine emotionalisierte Debatte in Erinnerung.

David würde seine Entscheidung heute noch genauso treffen und auch die Statistiken zeigen, dass das Votum heute wohl genauso ausgehen würde wie am 23. Juni 2016. „Natürlich gab es nach der knappen Abstimmung auch viel Wut und Tränen, aber so funktioniere Demokratie nun mal“, sagt er, „das Volk wusste worüber es abstimmt.“

Außerdem möchte er am Ende unseres Gesprächs eine Sache noch einmal betonen: „Ich bin nicht gegen Europa. Ich liebe Europa. Ich liebe die Kulturen. Ich habe so viele Leute kennen gelernt. Ich habe eine andere Sprache gelernt. Ich habe Freunde überall auf der Welt. Ich wäre sehr enttäuscht, wenn man den Eindruck bekommt, dass wir nicht weltoffen und freundlich sind. Europa sollte eine Union mit Platz für Diskussionen oder Handel sein aber kein Platz für Macht. Die EU braucht keinen Präsidenten, kein Parlament.“

Am Ende unseres Gesprächs setzen wir unsere Tassen ab. Der Kaffe ist leer und auch der Wirt steht wieder hinter der Theke. Schließlich muss das Geschäft weitergehen. Obwohl David nicht in mein Bild des rückständigen Freaks passt, vertritt er besonders in Deutschland eine unpopuläre Meinung. Wir sind nicht immer einer Meinung, aber er vertritt diese auf eine durchdachte Art und Weise und es ist ihm wichtig, sie zu verbreiten.

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Autor

hat eine Schwäche für Katzen-Gifs und Brokkoli-Pizza mit Sauce Hollandaise, in der Grundschule wurde sich über ihre Verträumtheit und ihre Tendenz Aufgaben besonders schön anstatt schnell zu lösen moniert. Aber damit hat sie sich mittlerweile abgefunden.

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