Istanbul in ein paar Worten zu beschreiben ist wohl unmöglich. Wolkenkratzer neben ehrwürdigen Moscheen und Palästen, Frauen in Burkas und junge Mädchen in Miniröcken und High Heels, Tradition und Moderne. Hier trifft wirklich alles aufeinander. Der Facettenreichtum der Stadt ist unendlich. Jede Gemeinde könnte eine eigene Stadt darstellen, mit einem komplett eigenen und individuellen Flair. 

Angler auf der Galatabrücke. Foto: Natalie Plath

Ich schaue aus dem Fenster des Airbus und muss zugeben: ich habe weiche Knie! Die Stadt, die unter mir liegt und für ein Semester mein neues Zuhause sein soll, scheint kein Ende zu nehmen. „Lokum?“ Eine Stewardess drückt mir, bevor ich ablehnen kann, eine gummiartige Süßigkeit in die Hand. Aber ein Glück sprechen hier eigentlich alle gut Englisch, denke ich.

Erste Eindrücke

Die Annahme, dass alle in der Türkei Englisch sprechen und verstehen, wird schon im Shuttlebus vom Flughafen zum Taksim Platz zunichtegemacht und ich bekomme einen ersten Eindruck davon, wie chaotisch es in dieser Metropole zugehen kann. Unzählige Taxis, Busse, Autos, Motorroller und Menschen mit Sack- und Schubkarren fahren kreuz und quer und es wird gehupt, was das Zeug hält. Auch als ich am riesigen Taksim Platz den Bus verlasse, herrscht ein wildes Durcheinander und ich suche mir meinen Weg durchs Gewusel von Touristen, Straßentieren, Einheimischen, fliegenden Händlern, Obdachlosen und syrischen Flüchtlingskindern. Ich weiß überhaupt nicht, wohin ich zuerst schauen soll. So viele Eindrücke! Aber schon jetzt ist mir klar: Dieses Semester wird mit Abstand das spannendste und aufregendste von allen werden.

Die Lage der Stadt ist traumhaft: Istanbul befindet sich direkt an der Meerenge, die Asien und Europa voneinander trennt, dem Bosporus. Die einzige Stadt der Welt, die zwei Kontinente miteinander verbindet. Die Altstadt, welche auf der europäischen Seite liegt und zum Stadtteil Fatih gehört, ist eher konservativ orientiert. Hier befindet sich unter anderem der Campus der „Istanbul Üniversitesi“, an dem ich studiere, die berühmten Moscheen, traditionelle türkische Bäder, die bunten Basare, aber auch einfachere Wohngebiete.

Blick nach Asien. Foto: Natalie Plath

Studieren in der Türkei

Meine ersten Eindrücke der Uni sind eher gemischt, aber ich muss zugeben: so habe ich mir die größte und angeblich auch eine der besten Universitäten der Türkei nicht vorgestellt! Unser Kursraum erinnert an ein Klassenzimmer aus Großmutters Zeiten und durch ein zerbrochenes Fenster schallt der Lärm von Baustellen, einer benachbarten Grundschule und den Moscheen. Die Klasse besteht größtenteils aus Mädchen und da ich Deutsch als Fremdsprache studiere, sprechen alle mehr oder weniger gutes Deutsch. In der Klasse sind wir acht deutsche Erasmusstudenten und wurden von Beginn an total warm und freundlich aufgenommen. Der Unterricht ist ganz anders, als ich es aus Flensburg kenne. Der Lehrplan ist komplett vorgeschrieben, man hat also keine Wahlmöglichkeiten und die Klasse bleibt immer in der gleichen Konstellation. Es gibt Hausaufgaben, Anwesenheitspflicht und Pünktlichkeit ist ausdrücklich erwünscht. Die Studieninhalte sind sehr viel mehr didaktisch und vermittlungsorientiert. Das ist ja wie in der Schule!

Zwischen Studenten und Dozenten herrscht ein ganz anderes und sehr viel persönlicheres Verhältnis als in Deutschland. Bei Fragen und Problemen stehen uns unsere Dozenten jederzeit zur Verfügung und helfen uns wo nur möglich. Ich bin fasziniert davon, was für eine strebsame und disziplinierte Arbeitsmoral meine neuen Kommilitonen haben. Doch obwohl das Niveau der Kursinhalte nicht annähernd den gleichen Standard hat und ich mich mindestens zweimal die Woche fragen muss, weswegen ich hier sitze, tun sich die meisten türkischen Studenten sehr schwer. Aber gut für mich, so muss ich weniger lernen und habe mehr Zeit diese außergewöhnliche Stadt zu erkunden.

Eine unglaubliche Bürokratie

Hätte mir vorher jemand gesagt, was man als Erasmusstudent in der Türkei für bürokratische und gleichzeitig chaotische Behördengänge vor sich hat, hätte ich es mir vielleicht zweimal überlegt, nach Istanbul zu kommen. Zum einen, weil selbst die Polizisten, bei denen man sich für eine Aufenthaltsgenehmigung bewerben muss, kein Englisch sprechen, zum anderen, weil einfach niemand wirklich einen Durchblick durch das „System“ hat. So läuft man von einer zur nächsten Behörde und erfährt von jedem etwas Anderes um am Ende dann doch wieder zum Anfang zurückkehren zu müssen. Zudem muss man bei jeder Behörde mit furchtbar langen Wartezeiten oder irgendwelchen Mittags-, Gebets- oder sonst-was-für-Pausen rechnen. In der Türkei wird nämlich in dieser Hinsicht alles etwas entspannter angegangen.

Feste feiern

Viel mehr Spaß macht es dafür, türkische Feste zu feiern. Ich wünschte, in Deutschland würden wir etwas mehr wie die Türken feiern! Es gibt massenhaft selbstgemachtes, köstliches Essen, welches größtenteils sehr süß und/oder fettig ist, laute Musik, die richtig gute Laune macht und es wird natürlich getanzt. Hier wird keine Ausnahme gemacht: Alle müssen mitmachen. Angebote abzulehnen gilt hier eher als unhöflich. Die Türken sind ein sehr gastfreundliches und großzügiges Volk und im Vergleich zu Deutschen Fremden gegenüber sehr aufgeschlossen und hilfsbereit. Ich habe mich in Istanbul nie alleine oder verloren gefühlt.

Eine neue Kultur kennenlernen 

Höflichkeit und Respekt werden in vielerlei Hinsicht großgeschrieben. Steigt beispielsweise eine ältere Dame oder ein älterer Herr in die Metro, dauert es keine drei Sekunden und sie bekommen im komplett überfüllten Zug einen Platz angeboten. Dasselbe gilt für Frauen mit Kindern. Fehlen einem beim Einkaufen ein paar Lira oder hat man im Stress seine Metrofahrkarte zu Hause liegen lassen, (was mir zugegebener Weise nicht nur einmal passiert ist) wird dies meist großzügig durchgewunken. Auch die Religion hat in der Türkei noch einen ganz anderen Stellenwert als bei uns. Fünf Mal am Tag ruft der Muezzin und es wird gebetet. Vor einem Gebet müssen sich Hände und Füße gewaschen werden und Frauen sollten lange Röcke oder Gewänder tragen. Auf den Gehwegen vor den Moscheen werden die Gebetsteppiche ausgerollt und selbst Angestellte unterbrechen fürs Gebet ihre Arbeit.

Leben in der Metropole

Man muss aber auch betonen: Istanbul ist nichts für schwache Nerven. Hier herrscht wirklich immer Ausnahmezustand: Zu keiner Tageszeit ist die berühmte „Istiklal Caddesi“, die Haupteinkaufsstraße der europäischen Seite oder die Metro nicht komplett überfüllt. Hier machen sich die offiziell 14 Millionen (inoffiziell 20 Millionen) Einwohner bemerkbar. Aber besonders das ist ein Aspekt an Istanbul, der mich fasziniert und reizt, gerade weil ich so ein richtiges Großstadtleben noch nie über so einen langen Zeitraum miterleben durfte. Das Metronetz ist für solch eine Stadt wie Istanbul wirklich popelig, die Preise für eine Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln dafür aber auch. Bei umgerechnet 30 Cent pro Fahrt kann man echt nicht meckern.

Istanbul zur Rush Hour. Foto: Natalie Plath

Auf der anderen Seite sehen mich die Einheimischen als Tourist und versuchen mich bei jeder Gelegenheit über den Tisch zu ziehen, jedenfalls habe ich das Gefühl, dass es so ist. Ob im Restaurant, auf Märkten, Basaren und auch sonst überall wo Geld fließt, kann man sich nie sicher sein, ob alles mit rechten Dingen zugeht. Auf fast jeder Rechnung sind Fehler zu meinen Ungunsten. Taxifahren in Istanbul ist zum Beispiel jedes Mal ein Abenteuer, denn bis zum Ende bleibt es spannend: Hat der Taxifahrer überhaupt verstanden, wo ich hin möchte? Wie viel soll ich jetzt eigentlich bezahlen und fährt er nicht grade absichtlich einen Umweg?

Alles in allem muss ich sagen, dass Istanbul keine Stadt für diejenigen ist, die ein typisches 08/15-Erasmussemester mit viel Alkohol, Party und Hangover suchen – auch weil Alkohol hier nahezu unbezahlbar ist. Ist man eher bereit, eine neue, spannende Welt und Kultur sowie richtiges Großstadtleben und eine der meiner Meinung nach beeindruckendsten Städte der Welt kennenzulernen, ist Istanbul genau das Richtige. Und auch wenn es nicht gleich für ein ganzes Semester sein muss – Istanbul ist definitiv eine Reise wert!

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