Wenn extremer Healthy Lifestyle Privatleben und Gesundheit bestimmt

Wer etwas erreichen möchte, muss sich Ziele setzen und immer wieder die eigenen Grenzen verschieben, so der Konsens. Klingt ja auch logisch. Doch manchmal schlägt Positives ins Gegenteil um und Ehrgeiz wird zu Wahn. Henrik hat für sich mit einigen Jahren Abstand erkannt: Er war süchtig nach Fitness – und spürt manche körperlichen Folgen bis heute.

„Mein Problem war: Ich war auf einem so hohen Fitness-Level, das wollte ich nicht verlieren. Darum habe ich mich regelrecht jeden Tag zum Sport gequält, auch wenn ich oft schlapp und mein Immunsystem schon down war – bis ich dann richtig krank wurde.“ Henrik ist niemand, der um den heißen Brei herumredet. Spricht er über seine Fitness-Zeit, findet er klare Worte: „Im Nachhinein denke ich, ich war sportkrank. Ich habe meinen Körper an die Wand gefahren.“

Mit klarem Fokus gegen die eigenen Grenzen

Vier Jahre lang ging Henrik Tag für Tag ins Fitnessstudio, verschrieb sich voll und ganz dem Training. Sein größter Gegner war er selbst. Gemessen hat er sich nicht an seinem Spiegelbild, wie es die meisten heute tun. Ihm ging es nicht um irgendwelche Muskeln, die sich unter dem Shirt mit V-Ausschnitt abzeichnen. Nur mit den eigenen Leistungsgrenzen stand er im Wettbewerb: „Ich habe mir klare Ziele gesetzt, die ich erreichen wollte. 50 Burpees in zwei Minuten zum Beispiel.“

Gemeinsam mit einem Freund steigerte Hendrik sich kontinuierlich und motivierte sich immer wieder zu neuen Bestmarken. „Das war unser Leben, jeder im Fitnessstudio kannte uns“, erinnert sich Hendrik und beschreibt, wie ihr Trainer regelmäßig ganze Abschnitte im Fitnessstudio sperrte, um optimale Bedingungen für die beiden Vorzeige-Athleten zu schaffen. Das Programm war heftig: zwei Kilometer Sprint, danach Planks und Burpees, wieder zwei Kilometer Sprint, Boxen und Battle Rope. Immer höher, weiter, extremer – bis nichts mehr geht.

Mehr geht nicht – Henrik in seiner Trainingshochphase. Selfies waren damals noch nicht so wichtig, darum ist dieses eines von sehr wenigen Fotos von damals. Foto: privat

Sein starker Willen ist Hendriks Doping

Henrik war einer der ersten Freeletics und CrossFitter überhaupt in Norddeutschland. Er entdeckte den Sport bereits vor sieben Jahren für sich. „Sport habe ich schon immer gemacht und zum Beispiel Gewichte gedrückt. Aber das typische Training war mir zu punktuell, wirklich fit ist man damit nicht, sondern trainiert nur bestimmte Muskeln. Ich wollte mehr“, erklärt Henrik. So begann er, sich nach Feierabend im Web intensiv mit der in Deutschland noch völlig exotischen Disziplin auseinanderzusetzen, wälzte Bücher und schaute Tutorials, stellte seine komplette Ernährung um, um die bestmögliche Basis zu schaffen – erst eiweißreich, später vegan, am Ende Paleo.

„Wenn ich nicht umkippe, kann ich noch“

Sich ambitionierte Ziele zu setzen und immer selbst neu herauszufordern ist elementarer Teil seines Wesens, ob beruflich oder privat. „Wenn ich ein Ziel vor Augen habe, schalte ich alles um mich herum aus. Ich bin ein Mensch, der bei allem übertreibt. Alles oder nichts. Wo Leute sagen ‚Ich höre jetzt auf, ich bin an meiner Grenze‘, packe ich mir noch ein Gewicht obendrauf. Wenn ich nicht umkippe, kann ich noch.“ Die Erfolge, die er in seiner Extremsport-Phase durch erbarmungsloses Training erzielt hat, haben ihn motiviert und im Laufe der Zeit unbewusst in eine Art Wahn getrieben. Limits gab es für ihn nicht. Sein Körper war immer am Anschlag. Aufzuhören, wenn er nicht mehr konnte, kam für ihn nicht infrage.

„Der Sport ist halt sehr undankbar: Das Problem ist, dass man sein hohes Fitness-Level extrem schnell verliert, wenn man nicht jeden Tag dranbleibt.“ Auch wenn Hendrik drei Stunden lang kiten war und körperlich schon entsprechend erschöpft, gönnte er sich keine Pause. „Ich dachte nur, ich MUSS ins Studio. Jeder, der ambitioniert war, hatte diese Sucht“ – nicht zuletzt, weil Hendrik und sein Freund in dieser Zeit viel Anerkennung von anderen Sportlern erfuhren.

Aus den Augen verloren: Freunde und Beziehung

Bei seiner Freizeitplanung stand der Sport an erster Stelle. Nach dem Feierabend seines Full-Time-Jobs auf dem Sofa zu entspannen oder einen Spaziergang zu machen, um die Akkus wieder aufzuladen, kam für Henrik nicht infrage. „Henny hat diese innere Stimme nicht, die ihm sagt, er muss aufhören und sich schonen“, fasst seine Frau Franzi zusammen. Auch Franzi begeisterte sich für das High Intensive Training, zog bei der Umstellung der gemeinsamen Mahlzeiten mit, war aber wesentlich entspannter. Im Gegensatz zu ihr fand Hendrik dieses Gleichgewicht nicht.

Henriks Leben bestand nur noch aus Arbeiten, Essen und Training. Für Freundin, Freunde oder Seele-Baumeln-Lassen blieb kaum Zeit. „Dieser Stress hat mein Leben bestimmt. Ich habe bewusst Feiern und Geburtstage abgesagt und vorgegaukelt, ich hätte keine Zeit, um am nächsten Tag fit zu sein und trainieren zu können.“ Hinzu kamen körperliche Probleme, wie andauernde Erschöpfung bei zeitgleicher Schlaflosigkeit. Nachts hat Henrik so heftig „nachgeschwitzt“, dass er täglich die Bettwäsche wechseln musste. Dass etwas aus dem Ruder läuft, merkte er unbewusst zwar schon, konnte sich jedoch nicht entziehen.

An einen Schlüsselmoment erinnert sich Henrik noch heute genau: „Nach einem Burpee sind mir die Arme weggeklappt. Statt mich bei dem Übergang in den Liegestütz abzufangen, fiel ich kraftlos mit dem Kopf auf dem Beton und dachte ‚Alter, Du bist so fertig.‘ Wenn ich jetzt darüber nachdenke, frage ich mich, warum ich so etwas gemacht habe.“

Der Fitnesssport bestimmte Hendriks Leben – bis der Umzug ans Wasser ihn erdete

Den Absprung schaffte er dann mit seinem Umzug direkt an die Schlei nach Schleswig, als das Studio nicht mehr um die Ecke lag und der Trainingspartner in einer anderen Stadt, Kiel, wohnte. Diese Veränderung kommt wohl einem Entzug gleich. Der Wohnortwechsel bedeutete zugleich den Weg zurück in die Normalität.

Und trotzdem – auch heute, drei Jahre, nachdem er mit dem Extremsport Schluss machte, spürt Henrik noch die Folgen seiner Fitnesszeit: „Ich habe tausend Allergien, mehr Haarausfall als gewöhnlich und mein Immunsystem ist Schrott.“ Das erholt sich zwar, aber nur langsam. Auch die Schlafstörungen werden jetzt besser.

Henrik macht heute immer noch viel Sport ist mit dem Kiteboard unterwegs, angelt oder geht segeln. „Ich muss mir nichts mehr beweisen, weil ich jetzt glücklich bin, mich auch mal hinlegen und entspannen kann.“ 30 Minuten Meditation oder Yoga gehören seit einem halben Jahr zu seinem täglichen Ritual. „Das hätte mir damals mal einer erzählen sollen, dass ich drei Jahre später Yoga mache“, witzelt er. „Aber die Meditation erdet mich, damit geht es mir gut.“

„Kalter Entzug“ an der Schlei : Hier geht Henrik heute gern Segeln, Angeln und Kiten. Foto: privat

Die goldene Mitte finden

Mit einigen Jahren Abstand erkennt Hendrik, die Ironie, die ihm lange verborgen blieb: Er hat nicht für, sondern gegen seinen Körper trainiert. Der Lebensstil, den er pflegte, war ungesund, obwohl er in der heutigen Zeit wohl das Zeug zum Top-Influencer für #bodytransform, #ambitious und #makeyourselfstrong hätte.

Wer in den sozialen Netzwerken aktiv oder passiv unterwegs ist, kommt um den Healthy Lifestyle nicht herum. Food-Blogs, Fitness-Apps und Feel-Good-Frühstück-Bowls gaukeln vor, dass dich nur strikte Disziplin und ein gesunder Lebensstil nach vorne bringen.

Wer schön sein will, muss leiden. Knechte dich selbst, sei streng zu dir, übersteige deine eigenen Grenzen, um fit und erfolgreich zu sein. Hendrik hat all das durch – und weiß es besser: „Meine Erkenntnis ist, dass weniger mehr ist. Sport ist gut, mach das, aber in Maßen. Extremsport macht nicht glücklich.“

Von der „Sportsucht“ als Begriff spricht man in den USA seit Mitte der 1990er Jahre. Betroffene zeigen typische Symptome einer Sucht: Ihre Gedanken kreisen den ganzen Tag um die Frage, wann sie das nächste Mal trainieren können. Beziehung, Freunde, Familie sowie Studium und Beruf werden dem Sport untergeordnet. Das Sporttreiben wird maßlos, Verletzungen werden zugunsten des Zwangs („ich muss trainieren“) in Kauf genommen und Signale der körperlichen Erschöpfung ignoriert. Mit dem Sport verbinden sich dann zunehmend negative Gefühle wie Leidensdruck, Unwohlsein und Ängste. Kann nicht trainiert werden, entwickeln sich Schuldgefühle.

Wird der Körper über Jahre überlastet, kommt es zur Schwächung des Immunsystems und Schäden an Knochen, Gelenken, Sehnen und Bändern. Von der Sportsucht können sowohl Männer als auch Frauen betroffen sein. Insbesondere jüngere Menschen gelten als mehr gefährdet. Charakterzüge wie Perfektionismus und Ehrgeiz sowie einschneidende Erlebnisse (Todesfall, Beziehungsprobleme, Stress im Beruf, usw.) können eine Sportsucht begünstigen, die sich meist schleichend entwickelt. Oft geht mit der Sportsucht eine Essstörung einher, etwa die Orthorexie – die krankhafte Fixierung auf gesundes Essen. Verwandt mit der Sportsucht ist auch die „Muskelsucht“ (Fachbegriff  Biggerexie, auch Adonis-Komplex genannt). Eine international anerkannte psychische Störung ist die Sportsucht bisher nicht.

Fitnessbranche: Zahlen und Fakten

  • Umsatz der Branche in Deutschland 2017: 5,2 Milliarden Euro. Im Vergleich: 2010, als Instagram erstmals in die App Stores kam, waren es 3,8 Milliarden Euro.
  • Mitglieder in Fitnessstudios in Deutschland 2017: 10,61 Millionen. (2010: 7,31 Mio.)
  • 4,81 Millionen Deutsche zwischen 20 und 29 Jahren gehen 2018 in ihrer Freizeit ins Fitnessstudio. (30 bis 39 Jahre: 3,53 Mio.; 40 bis 49 Jahre: 3,23 Mio.)
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mm
Autor

sortiert ihren Kleiderschrank nach Farben, ekelt sich vor Federn, hat eine „Emu-Gnu-Schwäche" und immer ein Paar Gummistiefel im Kofferraum.

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