Die Neustadt ist das schwarze Schaf der Flensburger Stadtteile. Keiner will hier wohnen. Aber warum eigentlich nicht?

Die Mauern stehen nicht mehr. Das einzig verbliebene Stadttor Flensburgs markiert trotzdem eine Grenze: wir hier, die Assis auf der anderen Seite. Wir hier gehen ins pädagogisch wertvolle Mitmachmuseum, zwanzig Meter auf der anderen Seite hat sich eine Crew von Neunjährigen Döner mit nur Fleisch und Safransoße geholt. Unbeaufsichtigt natürlich. Die Soße klatscht gelb aufs Pflaster – ein real life Beispiel von Schwerkraft, für das man in der Phänomenta Eintritt zahlt. Das real life aber passiert zwischen Nordertor über die Walzenmühle bis zur St. Petri Kirche kostenlos. In den Bushaltestellen und vor den Gemüsehändlern, am Spielplatz hinterm Lidl steht man mitten drin, drängt es sich einem auf, das echte Leben, und wenn’s einem nicht gefällt, Pech gehabt.

„Geh niemals nach zehn Uhr abends hinter das Nordertor“, beschwören Flensburger gerne mal Neuzugezogenen. Die Warnungen sind halb-ironisch, denn wir sind ja ein buntes Flensburg, wir gehen gerne mal zum Türken, Börek essen. Aber wohnen wollen wir hier trotzdem lieber nicht. Von den Einkäufen im Discounter kommen wir mit Anekdoten zurück über die Freakdichte der Neustadt und die Toast-und-Feigling-Einkäufe der Besoffenen; Anekdoten, die wir zu unserem veganen Chili sin Carne auf WG-Partys halb-gedacht servieren.

Die 08/15 Armut von nebenan

Dabei ist es nicht so, als kämen wir mit Andersartigkeit nicht klar. Im Gegenteil, unsere Generation zelebriert sie wie keine vor uns. Wir gehen backpacken um die Welt, machen Urlaub in Indonesien oder Auslandssemester in Ghana. Wir sind pro Flüchtlinge, pro Homo-Ehe, pro Emo, pro Nerd. Aber hör mir auf, wenn sich die Leute um die Ecke nicht genauso benehmen, wie wir das gewöhnt sind. Wenn das Freaksein kein ironisches Accessoire ist, das wir mit der Karottenhose an- und wieder ausziehen, sondern stattdessen die Plastiktüte mit dem schrammeligen Discman, auf dem „Durch die Nacht“ von der Fischer auf repeat läuft, das Outfit komplettiert. Wenn die Hosen Löcher haben, weil das Leben hardcore ist, nicht weil wir sie uns nach einem Youtube-Tutorial reingeschnitten haben. Dann ist uns die Andersartigkeit suspekt. Solange die Armut nicht exotisch ist, sondern ganz alltäglich, wollen wir sie lieber in sicherer Entfernung wissen.

So ist die Neustadt das kleinstädtische Pendant zum Kreuzberg von gestern: Man kann sich vorstellen, dass in den schönen Altbauwohnungen in zehn, zwanzig Jahren hippe Leute wohnen. Aber bis es soweit ist, bis sich hier Instagram-würdige Chai Lattes trinken lassen, fährt man lieber an den Campus oder zum Südermarkt. Da weiß man dann auch sicher, wer am Tisch nebenan sitzt.

Wer allerdings sein Abonnement auf ein vorhersehbares Nachbarklientel kündigt und es wagt im dichten Netz von Dönerläden und Handyshops zuhause zu sein, der spricht anders von dieser Ecke Flensburgs. Der Blick auf das Viertel, wenn man regelmäßig mit der Linie 1 oder 7 der Mühle entgegenfährt, wird nachsichtig: Hier ist der Optimierungswahn unserer Generation nicht angekommen. Die Neustadt ist nicht schick, sie bemüht sich aber auch nicht. Es gibt keine Mürwikschen Hecken, die Eintönigkeit verstecken müssen. Hier kommt, was geht, und bleibt, wer will. Die Neustadt ist das Mekka der Provisorien, des Scheiterns und des Trotzdem-Weitermachens. Sogar die schöne Flensburger Förde macht hier mit in der Anti-Optimierungs-Maßnahme, umringt von Industrie und beschienen von der worst marketing decision ever, dem grün-nuklearen Schimmern der Stadtwerke, ist ihr Ufer hier nichts anderes als das: keine Promenade, kein beliebtes Fotomotiv, bloß Wasser mit Rand.

Gentrifiziert doch woanders

Dass Flensburg eine Kleinstadt bleibt – und zwar nicht nur, weil wir es vermaledeit noch mal nicht über die 100.000 – Einwohnergrenze schaffen – merkt man nicht zuletzt daran, wie wir mit diesem Teil der Stadt umgehen, den wir immer noch vor dem Tor liegen lassen, als gehörte er uns nicht. Dabei ist es abseits von hübschen Altbaufassaden, pseudo-maritimen Bauprojekten und antiquierten Segelyachten, hier, wie nirgends sonst in der Stadt. Die Neustadt ist ungehübscht und roh, sträubt sich noch allen Gentrifizierungsversuchen. Aber statt dass der Charme des subtilen Chaos verzückt, fällt er unangenehm auf. Zumindest all denjenigen, die hier nicht leben. Und den Rest fragt eh keiner. So sind die Zeiten des ranzigen Supermarkts wohl gezählt, die Mauern vom Einkaufszentrum am Rande der Neustadt werden schon hochgezogen. Damit es hier am besten genauso wird, wie jenseits des Tors. Hoffentlich hört das Spektakel der Straße deswegen noch lange nicht auf.

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mm
Autor

würde auch während der Apokalypse keine Brille tragen und hält sich in den meisten Lebensfragen an die Lehren von Captain Jean-Luc Picard vom Raumschiff Enterprise.

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