Beim Friseur geht’s mitunter haarig zu. Ohne Haarspalterei habe ich die psychologische Seite des Berufs untersucht und haargenaue Antworten erhalten. Ein Friseurbesuch auf der Metaebene.

„Ich hab‘ mir mal die Haare schneiden lassen…“ – klingt nicht unbedingt nach spannendem Erlebnisbericht, kann aber zu sehr interessanten Eindrücken führen. So ging es mir. Ich saß im Salon, wartete sehr lange auf meinen Haarschnitt und habe zugehört. Zu meiner Enttäuschung ergab sich keine Diskussion über die boxerischen Qualitäten von Joe Lewis und Rocky Marciano. Nein, es wurden die haarsträubensten Themen, wie Krankheiten und Beziehungsstress, vor allen Anwesenden eruiert. Und wird derart häufig gesprochen, dass es zum Haareraufen ist. Offenbar ein  Klassiker zur Erholung von all der schweren Kost. Der Friseurbesuch schien Kunden wie Angestellte zu motivieren, über privateste Dinge zu reden. Haarige Angelegenheiten spielten auf dem Friseurstuhl anscheinend in zweierlei Hinsicht eine Rolle. Ein Friseur muss auch Psychotherapeut sein, oder? Öffnen sich die Kunden, weil sie im Friseurstuhl sitzen und gar nicht anders können? Ich wollte mehr erfahren und habe einen Tag lang in einem renommierten Flensburger Salon hospitiert.

Foto: Lennard Wencke

Zunächst: Der Alltag eines Friseurs an sich ist bereits eine haarige Angelegenheit. Die neunstündige Schicht im Salon will, im wahrsten Sinne des Wortes, durchgestanden werden. Ich stelle schnell fest, dass in jedem Friseur auch ein Chemiker stecken muss, als ich mir haarklein Grundierungen, Tönungen und deren Reaktion erklären lasse. Ist es auch im Grunde der immer gleiche Ablauf aus Waschen, Schneiden, Föhnen, so stellt doch jeder Kunde eine neue Herausforderung dar. Es ist stets eine Anamnese gefordert, oder wie Friseurmeister Andreas Ingwersen es ausdrückt: „Jeder Kopf ist anders.“ Er erzählt mir, man bewege sich auf einem Feld zwischen Handwerk und Kunst, welches täglich und je nach Kundenwusch haargenau austradiert werden muss. Haarfarben und -schnitte verändern Menschen und spiegeln oft den aktuellen Gemütszustand einer Person ausdrücklich wider. Besonders der Wunsch nach roten Haaren trage auch das Verlangen nach mehr als nur optischer Veränderung in sich, so der Experte.

Bei langjährigen Kunden besteht oftmals ein besonderes Vertrauensverhältnis. Der Friseur wird als Konstante im Leben begriffen. Empathie wird von den Haarschneidenden erwartet. Außerdem Kommunikationsfähigkeit ohne Aufdringlichkeit. Eine Vorstellung, wie sie eher der Psychologen entspricht. Thematisiert werden Glücks- und Unglücksmomente in Ehe, mit Kindern oder dem haarigen vierbeinigen Gefährten. Heikel wird es, wenn verflossene und aktuelle Liebschaft der gleichen Person auf dem selben Stuhl Platz nehmen. Situationen wie diese kosten Kraft, wie mir Ingwersen versichert. In die Haare geraten sei sich aber bei ihm noch niemand.

Foto: Lennard Wencke

Ich habe den Eindruck, dass hier viel Professionalität und vor allem Diskretion vonnöten ist. Die Menschen kommen eben nicht nur mit ihren Beautywünschen zum Friseur, sondern wollen obendrein noch mental frisch frisiert werden. Um noch eine haarsträubende Anekdote zum Besten zu geben: Eine eine ältere, sehr würdevolle Damen hatte ihre eigene Zahnprothese verschluckt und präsentierte zum Beweis das Röntgenbild ihres Magen-Darm-Traktes, natürlich griffbereit in der Handtasche, zur Freude aller im Salon.

Scheinbar war die Situation während meiner Wartezeit in keiner Weise außergewöhnlich. Vielleicht liegt es an dem Wohlfühlfaktor der körperlichen Pflege? Vielleicht aber auch an der vertrauten Umgebung, in die man sich in regelmäßigen Abständen begibt? Der Friseurbesuch gibt den Menschen ein gutes Gefühl der Aufgeräumtheit und Sauberkeit. Zunächst nach außen, aber auch im Inneren. Die Kunden scheinen bereit, umgeben von Spiegeln und Pflegeprodukten, viel von sich preiszugeben. Sie sitzen und können nicht anders. Die traute Zweisamkeit mit Hairstylisten suggeriert offenbar ein besonderes Vertrauensverhältnis in der öffentlichen Geschäftigkeit eines Salons. Der Coiffeur hat eine Verantwortung gegenüber seinem Besucher. Die Idee, ein Friseur sei auch Therapeut ist nicht an den Haaren herbeigezogen. Sowohl das äußere als auch das innere Wohlbefinden werden von einer vertrauten Person bedient. Eine Kundin beschreibt den Salon als Biotop. Ein treffender Vergleich.. Es besteht ein ausgewogenes Vertrauensverhältnis, das mir irgendwie logisch erscheint. Haarige Angelegenheiten spielen sich im Biotop Salon definitiv auf der Metaebene ab.

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mm
Autor

Mag Fahrradfahren nur, wenn er nirgendwo ankommen muss. Wäre der inkonsequenteste Vegetarier der Welt und wollte als Kind Maurer werden.

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