von Dorothee Marx und Hanna Schmidt

Nach einem langen Arbeitstag kommt Rahwa nach Hause. Sie geht direkt zu ihrem Handy und wählt die bekannte Nummer. Nebenher macht sie sich Essen vom Vortag in der Mikrowelle warm. Während sie ein paar Happen isst, spricht sie hitzig in den Lautsprecher: „Ka mey ke?“- „Wie geht´s?“ Sie spricht zu ihrem Mann und ihren zwei Kindern, die im über 4.000 km entfernten Sudan leben.

Die 25-jährige Eritreerin bekam im August 2015 Asyl gewährt, kam zunächst in einer Sammelunterkunft für Geflüchtete in Flensburg unter und zog später in eine WG. Seit drei Jahren versucht sie, ihren Mann und ihre zwei Kinder nach Deutschland zu holen.

Leben zwischen Tradition und Smartphone

Rahwas Körper ist schmal und wirkt fast kindlich. Sie ist 1,65 Meter groß und wiegt knapp 40 Kilo. Ein Piercing betont dezent ihre Nase. Die anfangs beschriebene Szene ist typisch in ihrem Alltag. Ihre Familie ist immer bei ihr – sei es beim Telefonieren, über den Videochat oder in ihren Gedanken. Bei all den Anrufen klingt ihre Stimme unbeschwert, sie spricht sehr schnell. Immer wieder fällt sie in lautes, ansteckendes Lachen. Wenn sie nicht telefoniert, nutzt sie ihr Handy vor allem, um die immer gleiche traditionell eritreische Musik zu hören. Die meditativen Gesänge dröhnen begleitet von Zupfinstrumenten und Trommeln aus dem Lautsprecher. Den Musikgeschmack von Deutschen in ihrem Alter findet man in ihrer Playlist nicht.

Wenn du verliebt bist, musst du heiraten und Kinder kriegen.

Überhaupt ist ihr Leben im Vergleich zu vielen Gleichaltrigen anders. Sie ist eritreisch-orthodox, lebt streng religiös, fastet zu Ostern und trinkt keinen Alkohol. In ihrem Zimmer hängen neben den Fotos ihrer Familie viele Marienbildnisse und ein Rosenkranz. Vieles ist für sie von Gott bestimmt.

An religiösen Feiertagen, die sie in Ostafrika mit ihrer Familie feierte, lädt sie in Deutschland Freunde ein. Sie kocht dann gern und üppig, typische Speisen wie Eintöpfe mit Fleisch, Okra oder Linsen, die mit Taita gegessen werden, einer Art Pfannkuchen aus Sauerteig. Nach dem Essen wird bei einer traditionellen Kaffeezeremonie weitergefeiert.

Paare, die schon lange zusammenleben, aber nicht heiraten, versteht Rahwa nicht: „So etwas gibt es nicht in Eritrea. Wenn du verliebt bist, musst du heiraten und Kinder kriegen“, denkt sie. Sie selbst war schon mit 16 das erste Mal schwanger. Ihre Einstellung sorgt manchmal für Diskussionen zwischen ihr und den WG-Mitbewohnerinnen, die im gleichen Alter sind und eine liberalere Haltung zum Thema Partnerschaft haben. Aber trotz ihrer eigenen Lebenseinstellung akzeptiert sie andere Meinungen. Es ist ihr wichtig, sich der deutschen Kultur anzupassen und Kontakt zu Deutschen zu haben. Auch deshalb entschied sie sich ganz bewusst, aus der eritreischen Gemeinschaft im Flüchtlingsheim in eine WG mit Deutschen zu ziehen.

Seit November 2016 arbeitet sie als Küchenhilfe in einem Restaurant. Keine leichte Arbeit. Doch sie bedeutet ein eigenes Einkommen, Unabhängigkeit, einen strukturierten Alltag und die Möglichkeit, die zurückgebliebene Familie finanziell zu unterstützen.

An ihren freien Tagen trifft sie sich regelmäßig mit einer deutschen Freundin. Die 80-Jährige ist für Rahwa wie eine Ersatzmutter. Liebevoll nennt sie sie „Mama“. Zusammen fahren sie nach Wassersleben, gehen spazieren, Kaffeetrinken und kaufen gebrauchte Möbel und Kleidung.

Auf der Flucht

Neben ihrer Familie telefoniert sie auch mit Freunden und Verwandten, von denen viele Eritrea wie sie verlassen haben. Sie leben in den USA, in Israel, Belgien, Norwegen, der Schweiz, Polen oder den Niederlanden. Nur ihre Eltern und fünf ihrer jüngeren Geschwister leben noch immer auf dem Hof in Eritrea, auf dem sie als Älteste von sieben Kindern aufwuchs.

2017 machten Eritreer die viertgrößte Flüchtlingsgruppe aus, die in Deutschland Asyl suchten. Auch Rahwa ist nach Deutschland geflüchtet, um sich und ihrer Familie ein besseres Leben zu ermöglichen. Gemeinsam mit ihrer Familie war sie bereits vor einigen Jahren von der im Landesinneren gelegenen Stadt Keren in den Sudan geflohen.

Wie im Fernsehen zu sehen.

Im muslimischen Gebiet des Sudans leben ihr Mann und die Kinder zurzeit als christliche Minderheit. Die zehnjährige Tochter muss sich außerhalb des Hauses verschleiern. Immer wieder gibt es Unruhen im Land, sodass Kirchen und Schulen geschlossen werden.

Die Flucht ist kein Tabuthema. „Wie im Fernsehen zu sehen“, erklärt Rahwa. Sie kam über Libyen, wo Schlepper sie in ein Boot setzten, das sie auf die italienische Insel Lampedusa brachte. Dort kümmerten sich Hilfskräfte um sie und die zahlreichen anderen und bald wurde sie weitergeschickt und kam über das italienische Festland nach Deutschland. Dass sie als Frau den gefährlichen Fluchtweg auf sich nahm, war eine bewusste Entscheidung. Ihr Mann hatte, im Gegensatz zu ihr, Arbeit im Sudan und konnte so die Kinder versorgen.

Ein Behördenwahnsinn, der krank macht

Bereits drei Jahre dauern ihre Bemühungen schon an, ihre Familie nach Deutschland zu holen. Wenn Rahwa Fotos von ihren Kindern zeigt, tut sie das mit einem Lächeln. Immer häufiger wird sie aber auch traurig, wenn sie von ihrer Familie erzählt. Die Trennung macht sie kaputt, sowohl körperlich als auch seelisch. Sie klagt häufig über Kopfschmerzen und Appetitlosigkeit, hat Schlafstörungen. In der letzten Zeit hat sie stark abgenommen und auch die Nahrungsergänzungsmittel, die ihr vom Arzt verschrieben wurden, haben nicht viel bewirkt.

An den Wochenenden gehen ihre Mitbewohnerinnen aus und wollen Rahwa mitnehmen, sie auf andere Gedanken bringen. Noch vor einem Jahr waren sie einige Male zusammen unterwegs. Rahwa hat ihrem Mann dann Bilder geschickt, vielleicht um ihm zu versichern, dass es ihr hier gut geht. Doch mittlerweile lehnt sie Einladungen immer häufiger ab. Sie sei müde, wolle noch telefonieren. Ihr Alltag besteht zum größten Teil aus der Arbeit in der Küche und dem Kontakt zu ihrer Familie, dem Festhalten an der Heimat. Rahwa verpasst dadurch die Chance, sich in der Stadt vollständig zu integrieren, soziale Kontakte zu knüpfen und ihr Deutsch weiter zu verbessern. Aber dass sie sich so zurückzieht, macht nur umso deutlicher, wie wichtig das Zusammensein mit der Familie für eine erfolgreiche Integration ist.

Die Familienzusammenführung ist kompliziert, langwierig und oft undurchsichtig. Immer wieder muss wochen-, teils monatelang auf Dokumente gewartet werden: erst auf die Geburts- und Heiratsurkunden, dann auf die Ausstellung der Pässe ihrer Kinder, dann auf UN-Anerkennungspapiere. Wegen Sprachbarrieren konnte der ursprüngliche Termin der Visa-Beantragung der Familie nicht stattfinden, Botschaften gelingt es außerdem nicht, miteinander zu kommunizieren und zu kooperieren. Dokumente müssen neu beantragt und für ihre Ausstellung erneut viel Geld gezahlt werden, obwohl sie bereits vorliegen. Zuletzt musste die Heiratsurkunde ein weiteres Mal geprüft werden, weil Rahwa nicht den Namen ihres Mannes trägt. Es ist kaum zu glauben, dass ein Menschenrecht wie das auf Familienleben so boykottiert wird. Das Prozedere beider Staaten grenzt an Schikane.

Beim Gedanken an die Ankunft ihrer Familie in Deutschland, strahlt die junge Eritreerin. Sie blickt zuversichtlich in die Zukunft. Foto: Melissa Weyrich

Ein großes Fest

Mittlerweile hat die deutsche Botschaft in Eritrea alle nötigen Unterlagen und die Pässe beisammen. Jetzt fehlen nur noch die Visa-Stempel, damit die Flüge nach Deutschland gebucht werden können. Bis es soweit ist, bleibt es wieder nur zu warten. Rahwa sehnt den Tag herbei, an dem sie ihre Familie von Flughafen abholt: „Wenn meine Kinder und mein Mann kommen, mache ich eine große Feier.“

Rahwa sieht trotz aller Strapazen einen Sinn in ihrer Flucht und ist zuversichtlich. Sie plant bereits die gemeinsame Zukunft mit ihrer Familie in Deutschland, will bald ihren Führerschein machen, freut sich darauf, dass ihr fußballverrückter Sohn hier in einem Verein wird spielen können und träumt davon, ein eritreisches Restaurant zu eröffnen, in dem sie frisch kocht und Taita bäckt. „Aber für die Deutschen nicht zu scharf“, ergänzt sie lachend.


Fakten zum Familiennachzug

Das Recht auf Familiennachzug ist im Asylgesetz verankert. Geflüchtete mit einer Aufenthaltsgenehmigung können demnach auf Antrag ihre Ehepartner, Kinder und Eltern nach Deutschland holen. Seit 2015 wurden über 322.000 Angehörige nach Deutschland geholt (Stand: Juli 2018). Für subsidiär Geschützte (Menschen, die nicht politisch oder religiös verfolgt werden, aber trotzdem im Herkunftsland der Lebensgefahr ausgesetzt sind, z.B. Syrer) wurde das Recht auf Familiennachzug von März 2016 bis Juli 2018 ausgesetzt. Zuvor hatten Syrer den größten Anteil des Familiennachzugs ausgemacht. Seit August dürfen engste Familienangehörige subsidiär Geschützter bei einem Kontingent von 1.000 Personen im Monat wieder nachgeholt werden. Neben Syrern werden Visa zur Familienzusammenführung v.a. an Menschen aus Eritrea, Irak, dem Iran, Jemen und Afghanistan vergeben.


 

 

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mm
Autor

gießt beim Telefonieren ihre Pflanzen, kann nur mit Nasezuhalten tauchen und kniffelt leidenschaftlich gern.

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