Ein Plädoyer für Mehrweg statt Müll,
gelebte Erinnerungskultur und vor allem
Minimalismus statt Materialismus

Mein Blick schweift die langen Regale entlang; ich möchte auf keinen Fall das Fundstück meines Lebens verpassen! Auf dem Boden angekommen, starren mich aus einer Kiste heraus Dutzende Brillen an. Scheinbar achtlos dort zusammengeworfen. Ich muss schlucken. Erst in diesem Moment wird mir bewusst, dass viele der Sachen, die hier zum Verkauf stehen, aus Haushaltsauflösungen auf Grund eines Todesfalls stammen müssen. All diese Brillen haben keinen Besitzer mehr. Bewegt und in Gedanken versunken gehe ich weiter.

Foto: Lennard Wencke

Während ich die Massen an zahllosen Gegenständen betrachte – vollkommen aus ihrem vormaligen Kontext entrissen und nun nur noch nach Art und Funktion gruppiert –, startet in meinem Kopf eine unaufhaltsame Fahrt auf dem Gedankenkarussell. Wie Schneewittchen stehe ich vor einem Stapel Geschirr und frage mich: „Wer hat von meinem Tellerchen gegessen?“ All diese Dinge hier haben eine Geschichte, hinter ihnen steckten mal Gesichter – jedoch kennt sie keiner. Etwas fassungslos blicke ich mich in der großen Halle um: Das ist es also, was von uns zurückbleibt, wenn wir sterben? Ein Sammelsurium an Konsumgütern ohne nennenswerte Eigenschaft und Erinnerung an die Person, die einst ihr Leben damit verbrachte, all diese Dinge anzuhäufen.

So soll es enden?

Ich erinnere mich an einen Besuch bei meinen Großeltern vor ein paar Wochen zurück. Gerade dabei, mir meine erste eigene Wohnung einzurichten, bietet mir mein Opa an, dass ich das, was mir in ihrem Haus gefiele, doch einfach haben könnte. Ständig schleppt er neue, oder viel mehr alte Sachen an und fragt mich, ob das nicht was wäre. Etwas überfordert murmle ich, dass ich ihnen nichts wegnehmen möchte. „Das liegt schon so lange bei uns rum, wir brauchen es nicht und irgendwann kommt es ja sowieso weg“, antwortet mein Opa. Ein beklemmendes Gefühl beschleicht mich.

Zurück im Kaufhaus denke ich an ein Zitat von Wolfgang Neuss, das mir in letzter Zeit immer wieder begegnet ist:

„Es kommt nichts weg.“

Foto: Lennard Wencke

Wenn ich mich hier so umblicke, bestätigen die absurden Mengen an Haushaltsgeräten, Möbeln und Kleidungsstücken diese These. Hier soll es also enden? Und vor allem: Damit soll es enden? Diese Gedanken widerstreben mir.

Minimalismus versus Materialismus

Mein Ausflug in die Zeitkapsel der Sachen der Anderen macht mir mehr als deutlich: Materielle Dinge sind im Überfluss im Umlauf. Wir sind die Shopping Queens und ergeben uns dem Konsumzwang, meist ohne diesen zu hinterfragen und wenig Chancen, diesem gänzlich zu entkommen. Ich selbst bin dabei bestimmt keine Ausnahme. Doch immer öfter legt sich in letzter Zeit bei mir ein Schalter im Gehirn um. Statt nur noch mehr dazu beizutragen, versuche ich, alten Sachen ein neues Zuhause, ein neues Leben zu geben. Alles ist im Fluss, statt im Überfluss.

Irgendwie ein schöner Gedanke, dass auch die eigenen Sachen nach dem Tod auf eine gewisse Weise weiterleben, indem sie weitergegeben werden. Natürlich sollte von einem Menschenleben weitaus mehr überdauern als dessen materielle Besitztümer. Aber auch mit diesen hat man die Möglichkeit, Geschichten und Erinnerungen weiterzugeben, wie im Falle meiner Großeltern. Definitiv ist es eine andere Situation, wenn man nicht weiß, woher die Dinge in einer Haushaltsauflösung stammen. Aber auch dann kann man sich bewusstmachen, dass dieser Gegenstand einmal einer anderen Person vielleicht jahrelang große Dienste erwiesen hat und dass er nun voller Wertschätzung weitergenutzt werden soll.

Foto: Lennard Wencke

Mehrweg statt Müll

Das Zitat von Wolfgang Neuss mag jeder anders auslegen, für mich bedeutet es Gewissheit und auch Verantwortung: die Gewissheit, dass der Tod einer Person nicht das Ende sein muss und die Verantwortung, das, was von diesem Menschen überdauert, zu erhalten.

Ich nehme mir vor, beim nächsten Heimaturlaub ein paar Sachen meiner Großeltern mit in meine neue Wohnung zu nehmen ­– doch nicht einfach aus rein sentimentalen Gründen, sondern weil ich sie brauche und noch gerne zu Lebzeiten meine Erbfolge antreten möchte. Denn dann kenne ich zum einen die Geschichten und Gesichter, die hinter dem Gegenstand stecken, und zum anderen wissen auch meine Großeltern, in welche Hände ihr einstiger Besitz übergeht.

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mm
Autor

sieht in jedem Buchstaben eine bestimmte Farbe, spricht bis heute noch manchmal Salamander als „Salmanander“ aus und Michel aus Lönneberga mit seinen Streichen war ihr als harmoniebedürftiges Kind zu unartig.

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