Neben Hipster und Normalo liegt Nerd wohl am ehesten auf der Zunge, wenn man gegenwärtig ins subkulturelle Labeln verfällt. Nerd sein, ursprünglich ein Schimpfwort des US-amerikanischen Raumes, stellt mit maximaler Digitalisierung unseres Alltages und dank aktuell 254 Folgen The Big Bang Theory einen akzeptierten Gegenentwurf des spornosexuellen Lebensstils dar. Aber was bedeutet es eigentlich, heute Nerd zu sein?

Der Nerd in uns

Klar, das Klischee kennt auf diese Frage eindeutige Antworten. Als einen geeigneten Einstieg und einfach der guten Laune wegen, kann ich an dieser Stelle den Track Nerds von Blumentopf wärmstens empfehlen. Hier wird ein ähnliches Bild gezeichnet, wie in der offiziellen Definition eines Nerds nach Wikipedia (übrigens eine der nerdigsten Websites überhaupt), die mit folgenden Sätzen beginnt:

A nerd is a person seen as overly intellectual, obsessive, or lacking social skills. Such a person may spend inordinate amounts of time on unpopular, little known, or non-mainstream activities, which are generally either highly technical, abstract, or relating to topics of fiction or fantasy […]

Diese stereotype Darstellung dürfte jedem bekannt sein und ich bin überzeugt, dass einige sich mit dem zweiten Satz ein Stück weit identifizieren können, obwohl sie sich keinesfalls als Nerd bezeichnen würden. Ich zumindest kann das gut. Als Jugendlicher habe ich stets einen inneren Kampf ausgetragen, Nerdsein versus Coolsein sozusagen. Auf der einen Seite Fantasy Tabletop Spiele und Lan-Partys, auf der anderen Mädelsgeschichten und Korn-Cola-Gelage im Gartenhäuschen (#Landjugend, aber das ist ein anderes Thema). Mit der Zeit ist die Nerdseite dann immer mehr verdrängt worden und dennoch gibt es sie bis heute. Mich interessiert, wie es geworden wäre, hätte ich mich von Anfang an zu ihr bekannt und so richtig abgenerdet.

Auf in eine neue alte Welt!

Um das herauszufinden, habe ich den wohl nerdigsten Ort in Flensburg gesucht. Beim Hackerspace, dem selbsternannten Treffpunkt der Nerds dieser Stadt und gleichzeitig Klubraum des Chaostreff Flensburg e.V., wurde ich fündig. Klingt perfekt nach Chaos Computerclub und Software hacken mit Viren und so, richtig nerdig halt. Thorben, einer der Mitgründer des Chaostreff, lädt mich herzlich ein und so schaue ich mit Kamera und dem gesamten Arsenal an Klischees im Gepäck zum Interview- und Fototermin vorbei.

Foto: Lennard Wencke

Schon beim Hereinkommen muss ich schmunzeln, weckt doch ein Hauch aus zu warmer PC-Abluft und Schweiß Erinnerungen an jene vergangenen LAN-Party-Zeiten. Auf der Klischee-Liste wird zumindest der erste Punkt abgehakt. Ich blicke auf einen großen Gruppentisch, auf dem mehr Laptops zu stehen scheinen als Menschen im Raum sind – wer hat, der kann – vielleicht ein kleiner Show-Off fürs Foto, denke ich und revidiere den Gedanken direkt wieder. Der gesamte Raum schreit förmlich „Scheiß drauf, wir machen unser Ding.“ Etwa 15 Leute sind da und in ihre Projekte vertieft. Mit lediglich zwei Frauen wird das Geschlechterverhältnis deutlich und noch ein Haken gesetzt. Ich stelle mich kurz vor und erkläre, dass ich einen Artikel schreibe und Fotos machen will. Einige Köpfe gehen hoch und schauen kurz herüber, andere zeigen gar keine Regung und bleiben versteckt hinter Bildschirmen. „Joa, ist gut“, kommt von irgendwem, bevor sich auch dieser wieder endgültig dem Wesentlichen widmet. Gleich der nächste Haken, dann fange ich wohl mal an.

Beobachtungen im Nerdparadies

Zwei Typen sitzen umrahmt von Laptops und Mate-Flaschen am Tisch und starren auf ein leuchtend-rotes Lämpchen einer Platine. Es blinkt und erlischt dann endgültig. An was die beiden gerade arbeiten würden, möchte ich wissen. Das Level of akwardness, das ich mit meiner Frage auslöse, macht es schwer, aber zugleich mir persönlich auch leichter, mich als Aussenstehender und fotografierend weiter einzumischen. Beide schauen mich etwas verdutzt an und wissen zunächst nicht so recht, sich zu erklären. Vielleicht ist meine Frage einfach zu trivial gewesen? Wieder ein Haken auf der imaginären Liste. Eine analoge Anzeige für digitale Signale bekomme ich als Antwort. Back to the future…oder umgekehrt?! Die Frage nach dem tieferen Sinn stellt sich hier jedoch nicht, auf die bekomme ich nämlich lediglich ein knappes aber treffendes: „Weil es halt möglich ist.“ Fair enough, denke ich und schaue weiter.

Foto: Lennard Wencke

Nebenan wird an einem Milchtüten-großen Roboter geschraubt, der autonom funktionieren soll. Ich bin etwas verwirrt, wird hier doch weniger digital gehackt als gedacht. Klar, beide Projekte basieren auf selbstgeschriebener Software, aber diese wird genutzt, um Analoges anzusteuern und zu optimieren. Zudem steigen mir nun neue Düfte in die Nase. Verdampfendes Lötzinn und schmelzendes Plastik wecken endgültig mein eigenes kleines Bastlerherz. Rechts wird ein Kopfhörer repariert und geradeaus 3D-gedruckt. Ersatzteile für eine Drohne, erfahre ich. Hier wird anscheinend wirklich mehr gemacht als nur Code geknackt. Ich bin weniger der Programmierer und mehr der Handwerker und deshalb positiv überrascht.

Foto: Lennard Wencke

Die wahre Definition eines Nerds

Im Gespräch erklärt mir Thorben, dass sich das Hacken für den Chaostreff längst nicht nur auf Code und Software bezieht. Schon gar nicht würde hier der nächste Trojaner programmiert, was häufig falsch mit dem Chaos Computer Club assoziiert werde. Schmunzelnd stimme ich zu. Was denn wirklich das Nerdsein und die Nerdcommunity ausmacht, möchte ich jetzt endlich wissen. Man stelle als Nerd einfach häufiger die Warum-Frage und würde sich noch tiefgründiger mit seinen Interessen beschäftigen, bekomme ich als Antwort. Die gemeinsame Neugier und der besondere Zusammenhalt der Community wären grundsätzlich die Dinge, die ihn persönlich am meisten begeistern würden.

Ich bemerke eine aufkommende Euphorie, während mein Gegenüber ins Schwärmen gerät. Besonders deutlich werde all das während des jährlich stattfindenden Kongress des Chaos Computer Clubs, welcher mit 13.000 Teilnehmern eines der größten Treffen der kreativen Szene ist. Die Atmosphäre dort sei so aufgeladen von Kreativität und Tatendrang und alle würden versuchen, sich mit ihren Projekten zu übertreffen. Klingt ziemlich gut, denke ich und notiere mir im Kopf schon mal den Termin fürs nächste Jahr. Dieses Jahr sind nämlich schon alle Karten weg, sagt Thorben, obwohl der Kongress erst im Dezember ist.

Ausblick und Bekenntnis

Über die Projekte, die im Chaostreff umgesetzt werden, erfahre ich, dass grundsätzlich jeder an dem arbeiten könne, was ihn gerade interessiert und sich dann häufig im Prozess Andere fänden, die einfach mitarbeiten würden. Manchmal würden auch bloß Dinge repariert. So kam zum Beispiel irgendwann ein kleiner Junge mit seinem Vater und einem defekten Tablet in den Klubraum und mit ihm zusammen wurde repariert, was eigentlich schon aufgegeben war. Erstaunt stelle ich fest, dass ich das gesellschaftliche Potenzial, der übertriebenen Wegwerfkultur entgegenzuwirken, gar nicht beim Chaostreff vermutet hätte. Dem nachzukommen sei natürlich mit wachsender Bekanntheit zunehmend aufwendig und übersteige schnell die Kapazitäten des noch kleinen Vereins. Wenn es um die gesellschaftliche Verantwortung gehe, sehe sich der Chaostreff zukünftig sowieso vielmehr darin, stärker Themen der Netzpolitik zu kommunizieren, stellt Thorben zum Abschluss des Interviews fest.

Ich mache noch ein paar Fotos und versuche die Eindrücke zu ordnen. Einige der Nerd-Klischees wurden hier definitiv erfüllt und dennoch habe ich als Antwort auf meine Frage, ob sich die Chaos-Crew grundsätzlich auch selbst als Nerds bezeichnen würde, ein deutliches und selbstzufriedenes Ja bekommen. So ein bisschen wirkt das, was ich gesehen und gehört habe, als würde hier eine Utopie gelebt. Die detailverliebte Langsamkeit im Kontrast zum quälenden Optimierungswahn der High Speed Society. Offenheit für den Blick nach rechts und links scheinen hier höher angesehen als nur der sture Drang nach vorn und die absolute Neugier und Kreativität wirken wichtiger als die Erfüllung von reinem Sinn und Zweck. Dinge dürfen neu entdeckt, verwertet, gehackt werden und gewinnen damit wieder an stärkerer Bedeutung. Und so scheint es, als täte unsere Gesellschaft und jeder von uns gut daran, sich ein wenig mehr Nerdsein zu gönnen. Hach jaa, ganz schön romantisierte Deutung…denn eigentlich schreit hier nur das Kind aus mir heraus:

Ich will wieder basteln!

Foto: Lennard Wencke

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