Ich ziehe die Haustür hinter mir zu, während ich in Gedanken den Refrain eines Songs von Madi Diaz singe: „Does it rain where you are?“. Den Blick zum grauen Himmel kann ich mir eigentlich sparen; die Pfützen, in die stetig Tropfen fallen, sind Antwort genug. Also ja, Madi, leider ja. Regenschirm habe ich keinen mitgenommen, den würde ich nachher sowieso nur im Café vergessen. Außerdem hege ich aus Prinzip stets die Hoffnung, dass sich das Wetter ja jederzeit ändern kann. Und bis dahin gehe ich erstmal einen Kaffee trinken.

Halbe Stunde, volle Zeit

Es ist relativ still im Café, nur die Gitarrenklänge aus den Lautsprechern werden von der Kaffeemaschine begleitet, die leise brummt. Ganz so, als würde sie sich auf die Arbeit vorbereiten, weil sie weiß, dass Bestellungen bald schon ihren Einsatz erfordern. Ein beständiges Zwiegespräch zur Einstimmung auf den Tag.  Ich nenne diese erste halbe Stunde, in der das Café zwar schon geöffnet ist, aber die Gäste des Tages noch etwas auf sich warten lassen, gerne eine halbe Stunde voller Zeit. Das Café scheint zu verharren, gerade so als hätte jemand den Sekundenzeiger etwas langsamer gestellt. Möglichkeiten schweben im Raum, weil der Morgen noch Morgen und noch nicht Vormittag ist und der ganze Tag noch bevorsteht.

Caféwände und Fensterscheiben

Ich sitze an einem Tisch am Fenster, von dem ich einen Blick auf die Straße und im Regen verschwommene Fußgänger und Radfahrer erhaschen kann. Gemütlich ist es hier. Das mit dem Wohlfühlen im Café ist so eine Sache. Man verlässt die eigenen vier Wände, um nach draußen zu gehen in fremde vier Wände, in denen man sich dann wiederum so fühlt, als wären es die eigenen: Zuhause 2.0. Von hier blickt man dann in die Welt hinaus, und die Welt blickt hinein. Große Fenster im Café sind die umgangssprachliche Mattscheibe für eine noch realitätsnähere Art des Reality TVs.

Foto: Laura Müller

Gedanken gehen wandern

Ich hänge meinen Gedanken nach, die hin und her schweifen. Ich überlege, dass die Tropfen, die an der Scheibe herunterlaufen, Tränen in Gesichter zeichnen. Blickt man von draußen herein, weine wahrscheinlich auch ich. Mich beschäftigt auch, dass in dem Café, in dem momentan nur wenige Personen sind, trotzdem so viele Gedanken herumwandern. Auf eine stille Art ist das ganz schön laut. Kurz muss ich schmunzeln, weil mir auf einmal einfällt, dass ich eine Kaffeetasse mit einer Klingel daran habe, die ich geschenkt bekommen habe. Einmal klingeln, Nachschenken bitte. Zweimal klingeln, Freunde, wo seid ihr? Kaffeeklatsch.

Zwischen Zeiten und Zeilen

Die erste halbe Stunde ist fast vorbei und die Atmosphäre im Café wird zunehmend lebhafter. Es kommen mehr Leute herein, suchen sich einen Sitzplatz, bestellen Kaffee. Der Tag nimmt Fahrt auf, der Sekundenzeiger tickt wieder fleißig. Meine Tasse ist inzwischen leer und ich freue mich über die gemütliche Auszeit. Die Kombination aus Kaffee, Musik und Gedanken fühlt sich tröstlich an. Café-Playlists klingen nach Umarmungen, High Fives, Schulterklopfen oder auch einer Schulter zum Anlehnen. Je nachdem, was man gerade braucht. So eine halbe Stunde voller Zeit kann man aber auch zu einer anderen Tageszeit im Café finden. Mal ruhig, mal betriebsam. Mal Neuanfang, mal Resümee.

Bis die Sonne wieder scheint

Ich zahle, nehme meine Sachen, öffne die Tür zur Welt, die ich bis eben durch die Scheibe sah und in der es immer noch regnet. Mein Regenschirm liegt zwar nach wie vor trocken zu Hause in einer Schublade; aber die Hoffnung, dass sich das Wetter ja jederzeit ändern könnte, die halte ich hoch.

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mm
Autor

mag Zimt, Zitate und Kurzgeschichten, würde gerne mal in ein Taxi steigen und sagen: "Bitte folgen Sie dem Wagen da vorne!"

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