Die Flüchtlingskrise, der amerikanische Wahlkampf, Jan Böhmermann, Plastiktütenverbot – so unpolitisch ist unsere Generation gar nicht. Nur vor der eigenen Haustür, dort wo wir studieren und wo wir von Wohnungsbau und Stadtentwicklung betroffen sind, da hört es auf. Aber sollte es dort nicht besser anfangen? 

Im Büro von Simone Lange meldet sich das Smartphone ununterbrochen, bing bing bing – achtmal kurz hintereinander. Mein erster und letzter Arbeitstag ist keine Stunde alt und es ist von Anfang an klar: Hier muss man das Mittendrin aushalten können. Der Typ von der Peripherie des Lebens, der wird hier nichts. Das Handy ist im Anschlag, bereit zu kommunizieren. Dialog als Dauerzustand sozusagen. „Ich muss kurz gucken, was hier kommt“, unterbricht sich meine Chefin und scrollt durch die Nachrichten.

Im Jahr 2016 habe ich mich einen Tag lang an die Bande des politischen Heimspiels gewagt, um herauszufinden, ob da vielleicht auch etwas geht. Simone Lange ist zu diesem Zeitpunkt noch SPD-Landtagsabgeordnete und Kandidatin für die Oberbürgermeisterwahl. Einen Tag lang darf ich ihr bei dem zugucken, was auch immer eine Politikerin auf Kommunal- und Landesebene so macht. Und vor allem herausfinden, was das eigentlich ist. Denn, zugegeben, ich habe keine Ahnung. Und damit bin ich vielleicht gar nicht so allein: Glaubt man den Zahlen, findet Flensburger Politik derzeit ohne die Mehrheit von uns Flensburgern statt. Bei den letzten Kommunalwahlen 2013 fanden nur knapp 35 Prozent den Weg zur Urne, bei der letzten Oberbürgermeisterwahl 2010 waren es noch weniger: 27 Prozent gingen wählen, bei der darauffolgenden Stichwahl nicht mal mehr jeder vierte Flensburger. Da attestiert man schnell mal im Rundumschlag Wahlfaulheit. Aber was für Kaffeefahrten und Schulausflüge gilt, stimmt in der Politik erst Recht: Wer nicht abgeholt wird, der kommt auch nicht mit.

Am Puls der Stadt

Mit spitzen Fingern tippe ich einen E-Mail-Entwurf ins Handy. Simone Lange hat mir, während sie sich mit ihrem Vertrauten Christian und ihrem Wahlkampfhelfer Matthias ganz nebenbei über scheinbar alles unterhält, Änderungswünsche für eine Veranstaltungseinladung formuliert. Nebenbei passiert sowieso das Meiste: Es werden Anzeigen und Wahlplakate besprochen, Telefonate geführt, Einkaufslisten durchgegeben. Wir tüten Zeitungen ein und parallel werden Veranstaltungen koordiniert und besprochen. „Ich melde mich da jetzt an“, entscheidet sich Simone Lange kurzerhand für die Teilnahme an einem Uni-Event und greift wieder zum Handy. Einfach hingehen und gucken, was geht, ist hier die Devise. Lieber einmal mehr aufkreuzen, gerade jetzt im Wahlkampf. In der Lokalpolitik, so scheint es, geht es ums Da-sein. Nicht ganz so philosophisch, eher pragmatisch: Es geht ums an Ort und Stelle sein, ums Hinkommen zu den Menschen, ums Miteinandersprechen. Darum ständig den Puls der Stadt zu fühlen.

Simone Lange versucht an den einzelnen Flensburger heranzurücken, ihn wieder mitzunehmen. „Ich will den Leuten das Vertrauen in die Politik zurückgeben, auch Kümmerer sein“, sagt sie. Ihr Tag gehe nicht selten von 9 bis 22 Uhr. Wenn ein bisschen Zeit übrig ist, am Wochenende zum Beispiel, macht sie Hausbesuche, stellt sich vor und hört zu, was die Flensburger bewegt.  Wann sie denn frei hat, brauche ich also nicht zu fragen. Ihr Tag ist eine endlose Liste an Dingen, die es zu erledigen gilt: Sitzungen, Veranstaltungen, Besprechungen. Da rutschen die kleineren Angelegenheiten schon mal von der Bewusstseinskante. Auf dem Weg in die Mittagspause hält sie plötzlich inne, die Hand an der Schläfe, die Augen geschlossen: „Wenn ich nur wüsste, wo mein Portemonnaie ist.“ Auch ein Schlüssel verschwindet kurz, aber alles findet sich wieder, liegengelassen auf dem Weg irgendwohin in Gedanken an irgendetwas Wichtiges.

Wortgewalt im Beifahrersitz

Auf der Autofahrt nach Kiel zur SPD-Fraktionssitzung geht es weiter. Simone Lange arbeitet vom Beifahrersitz: „Ich hab hier eine Stunde Zeit, um Sachen abzuarbeiten.“ Sie telefoniert, organisiert Unterstützer, diskutiert hin und wieder mit Christian, schreibt E-Mails, wieder alles vom Smartphone aus, diesem Stethoskop der Politik. Ich sitze auf der Rückbank, der graue Apriltag rast vor meinem Fenster und ich bin beeindruckt von der Wortgewalt im Sitz vor mir. Hier bleibt keine Zeit, um bleiern aus dem Fenster zu starren. Es ist eine ständige Auseinandersetzung mit Allem. Das vergisst man gerne bei all dem Zunicken und Händeschütteln: Diese latente Dauerbeschallung mit Fachlichem. Wirtschaft, Gleichstellung, Stadtentwicklung, Flüchtlingspolitik. Wer nicht up to date ist, hat verloren. Wer den Überblick nicht hat, ist fehl am Platz.

Willkommen im Landtag

Die Eingangshalle des Landtags ist so beeindruckend, wie die einzelnen Büros der Abgeordneten unauffällig sind. Auch wenn die Politikerfüße im quietschfarbenen Paternosteraufzug in der Decke verschwinden, ist die Grundstimmung gediegen und seriös, es wird Anzug getragen und man merkt es: In diesem Gebäude geht es um die Wurst. In der Fraktionssitzung diskutieren die Abgeordneten über Antragsformulierungen. Es ist Seminar-Atmosphäre, viel Input, ein paar zu viele Referate, es kommt gelegentlich zu Meinungsverschiedenheiten und immer mal wieder wird auf das Handydisplay geschielt oder aus dem Fenster. Nach drei Stunden bleibt das Gefühl, dass so fern ab von unserer Lebenswelt diese Politik dann doch nicht ist. Sie ist vielleicht sogar richtig nah dran, weil sie sich mit Dingen befasst, für die wir nicht mehr als ein Schulterzucken übrig haben. Ein Schulterzucken aber lässt hier niemand gelten.

Nur nicht stillstehen

„Glaubst Du, Du machst’s?“ frage ich Simone Lange salopp zwischen Tür und Angel. Es geht um die bevorstehende Bürgermeisterwahl. Die Fraktionssitzung ist zu Ende, es ist halb sechs und wir haben noch einen Kaffee getrunken in dem trostlosen Büro zum Hof. Sie ziert sich keine Sekunde: „Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Aber ich will’s. Ich will alles versucht haben.“ Auf dem Rückweg zum Parkhaus – die Kieler Förde flimmert plötzlich wieder von der Frühlingssonne – sagt zum ersten Mal an diesem Tag niemand etwas. Die Stadt strömt im Abendverkehr vorbei und es ist ein bisschen wie im Auge des Sturms. Man hört deutlich das Luftholen, das Wappnen für noch mehr Menschen, noch mehr Anliegen, noch mehr Termine. Für noch mehr, was es zu versuchen gilt. Und dann geht es schon wieder weiter, das Handy gezückt, zurück auf die Straßen dieser Stadt.

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mm
Autor

würde auch während der Apokalypse keine Brille tragen und hält sich in den meisten Lebensfragen an die Lehren von Captain Jean-Luc Picard vom Raumschiff Enterprise.

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